08.03.2024, 15:06 | #30 |
Moderatorin Internationale Comics
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Den Maßstab setzte in hochliterarischer Sicht Honoré de Balzac mit seiner 90 Bände umfassenden Comédie Humaine; der absolute Blockbuster war jedoch Eugène Sue's Les mystères de Paris (1842-1843) | Die Geheimnisse von Paris, was andere Schriftsteller als sportliche Herausforderung empfanden. Einige dieser Nachahmer stachen das Vorbild aus und sind bis heute Teil der Populärkultur: Da wäre zum einen Alexandre Dumas' Le Comte de Monte-Cristo | Der Graf von Monte-Christo und zum anderen Victor Hugos Bestseller Les Misérables. All diese Romane vereint die - wie sich das im 19. Jahrhundert nannte - soziale Frage, um den Zusammenhalt der Gesellschaft, bei der das prekäre Leben der Unterschicht, der Arbeiter und Proletarier, im Mittelpunkt stand. Das war ein künstlerisch neuer, provozierender Akt, eine ästhetische Revolution, denn gewöhnliches Leben wurde vorher abgelehnt, weil es nicht die entsprechende dramatische Fallhöhe aufwies. Jetzt bekamen die Armen, die Arbeiter, die Prosituierten und die Kriminellen ihren Platz in der Literatur, der von ihrer Umgangssprache geprägt, dem ansonsten verachteten Argot, dem Jargon der Gauner und Strauchdiebe. Hugo spannt dabei historisch den Bogen von der Schlacht bei Waterloo 1815 bis zum Juniaufstand der Republikaner 1832 in den Straßen von Paris. Realistisch geschilderte Szenen mischen dabei mit romantischen Liebesintrigen und Abenteuern, sodass sich gesellschaftlich relevante Themen zu einem süchtig machenden Stil verdichten. Wahrscheinlich deshalb gab es in Deutschland häufig nur gekürzte Übersetzungen; die erste vollständige Fassung erschien 1983 bezeichnenderweise in einem Verlag der DDR. Die Urheberrechte sind mittlerweile abgelaufen, und wer will, kann den Stoff adaptieren. Davon wird ausgiebig Gebrauch gemacht, weshalb heute die Auswahl groß ist: Neben dem bekannten Musical gibt es etliche Verfilmungen, entweder für das Kino und das Fernsehen, Bühnenfassungen, Comics und Hörspiele. Der britische Literaturwissenschaftler David Bellos nennt ihn deswegen in seinem Sekundärband den Roman des Jahrhunderts. Die ziemlich werkgetreue BBC-Miniserie von 2018 mit Dominic West und David Oyelowo wurde von der Kritik begeistert aufgenommen, und mir hat sie so gut gefallen, dass ich sie jederzeit erneut ansehen würde. Denn einerseits nimmt sich die Serie die Zeit, um die Figuren kennenzulernen, andererseits behandelt sie diese mit Respekt. Die Regie führt die Schauspieler großartig, weshalb sie mich mit ihren Leistungen auf der Mattscheibe überzeugen konnten. Es gab Szenen, da war ich zu Tränen gerührt. Das Drehbuch ordnet den Stoff prächtig und lässt ihn atmen, so dass kleinste Szenen zu Kabinettstückchen werden, etwa wenn der entlassene Jean Valjean dem Kind Petit-Gervais 40 Sous raubt und diese Missetat kurz darauf bitterlich bereut. Szenenbild und Kameraführung sind kinoreif. Bei der Besetzung hatte ich zunächst befürchtet, sie wäre unter anderem mit David Oyelowo in der Rolle von Valjeans Nemesis Javert zu woke, aber damit hatte ich mich selbst aufs Glatteis begeben. Um ein Fazit zu ziehen: eine vorbildliche Literaturverfilmung. Meine Hochachtung vor dieser Glanzleistung. Geändert von Servalan (09.03.2024 um 14:06 Uhr) |
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