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Alt 30.11.2015, 15:53   #26  
Servalan
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Standard Fjodor Dostojewski: Der Spieler (1867)

Фёдор Михайлович Достоевский: Игрок
Deutsche Ausgaben lieferbar von Fischer Taschenbuch, dtv, Aufbau-TB und Anaconda (der Umfang liegt bei ca. 256 Seiten, als Hörbuch beim Hörverlag und DAV
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Spieler
http://www.getabstract.com/de/zusamm...r-spieler/3726
http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/111697.html

Geld oder Liebe? Eine alte Frage, die sich immer wieder neu stellt.
Dostojewski steckte das Zocken selber im Blut, und weil er dringend Geld benötigte, um seine Spielstunden zu decken, schrieb er diesen (für seine Verhältnisse) kleinen Roman in 26 Tagen.

Die Reichen und Schönen unter den Exilrussen vertreiben sich ihre Zeit in den Spielsälen des kleinen Kurortes Roulettenburg. Erzählt wird die Geschichte von Aleksej Iwanowitsch, dem Hauslehrer der Generalstochter Polina, in die er unsterblich verliebt.
Dem General jedoch steht das Wasser bis zum Hals. In Rußland könnte seine Erbtante sterben, weshalb er auf die erlösende Todesnachricht giert. Dann könnte bei dem hochnäsigen Franzosen de Grieux, der sich ebenfalls in Polina verguckt hat, seine Schulden tilgen.
Statt eines Telegramms erscheint die alte Dame höchstselbst und mischt den Laden kräftig auf. Nachdem sie ihr Vermögen verspielt hat, reist sie wieder nach Moskau ab. De Grieux löst sich von Polina, und der General steht vor dem Ruin.
Da springt Aleksej in die Bresche und hält um Polinas Hand an. Er will sie und den General retten, indem er die fehlende Summe am Spieltisch gewinnt. Aber je länger er zockt, desto mehr Gefallen findet er am Spiel ...

Wer nicht weiß, ob er sich auf Dostojewski einlassen soll, dem bietet sich mit Der Spieler eine Schnupperlektüre. Das Personal bleibt übersichtlich, der Plot (Wie wird jemand süchtig?) ist zeitlos, und ein Wochenende reicht allemal, um den Roman durchzuschmökern.

Wer den richtigen Draht zu einem der russischen Klassiker schlechthin gefunden hat, dem empfehle ich seinen Pentateuch (nach den ersten fünf Büchern des Alten Testaments, der Spitzname für seine Hauptwerke): Schuld und Sühne, Der Idiot, Die Dämonen, Der Jüngling und Die Brüder Karamasow. Zum nebenbei Lesen taugen die wegen ihres Umfangs von 800 bis 1.200 Seiten kaum. Wenn sie zügig gelesen werden (zum Beispiel im Urlaub oder im Krankenbett), bleibt der Kontakt zu den Figuren erhalten.
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Alt 30.11.2015, 16:07   #27  
Peter L. Opmann
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Wohin führt das jetzt bitte nochmal?

Ursprünglich ging's ja um Weltliteratur, die den Leuten mutmaßlich durch die Schule vermiest wurde.

Ich habe mich schon mal kritisch zu Dumas geäußert, weil der die Meßlatte wohl doch knapp reißt. Rabelais fand ich interessant, weil ich den noch nicht so richtig beachtet hatte.

Aber wie ist das jetzt mit "Decamerone", "Gefährliche Liebschaften" und "Der Spieler"? Zur Schullektüre gehören diese Werke doch nicht unbedingt. Andererseits sind sie sehr bekannt - okay, wie viele Leute diese Werke gelesen haben, ist wieder eine andere Sache. Aber muß man solche Bücher hier ausführlich vorstellen? Was kommt als nächstes? Die "Verlorenen Illusionen"?
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Alt 30.11.2015, 17:05   #28  
Servalan
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Dem Zugang zur Weltliteratur gilt meine Aufmerksamkeit, und die kann auch über Nebenwerke geschehen - siehe oben: Dostojewski.

Bei den Lehrplänen habe ich nicht nur das Pflichtfach Deutsch in der Schule gedacht, sondern an die internationale Variante, beispielsweise beim Lernen von Fremdsprachen.
Weltliteratur hat da den genialen Vorteil, daß sich kurze Informationen rasch finden lassen. Wer will, kann sich schnell ein Grundwissen verschaffen.
Außerdem eignen sich kürzere Werke zum Selbststudium: Wer zuerst eine deutsche Übersetzung liest und dann zum Original greift, besitzt eine gewisse Orientierung und muß nicht jede Vokabel nachschlagen.

Dennoch gibt es mehr als genug dröge Titel, die auch den Spezialisten an der Uni etwas abverlangen. In Gedanken habe ich eine Schülerin (oder einen Schüler) der höheren Jahrgänge in der Realschule oder im Gymnasium vor mir; als interessierte Laien vielleicht einen Azubi oder Gesellen.

Mir geht die hyperaktive Kurzatmigkeit der Buchbranche auf den Keks. Alles, was älter als sechs Monate ist, wird abgeschrieben und kommt nur noch vor, wenn Preise verliehen werden. Spätestens nach einem Jahr ist der Titel dann durch, und kein Hahn kräht mehr danach.

Während meiner Schulzeit habe ich mir quasi meinen privaten Lektüreplan zusammengestellt. Wenn ich etwas für mich entdeckt hatte, bedeutete mir das mehr als die Pflichtlektüre für die Schulnote.
Etwas in der Form wollte ich dem Publikum hier bieten. Wer will, kann sich die Rosinen herauspicken - oder sich selbst mit Vorschlägen einbringen.

Geändert von Servalan (20.05.2016 um 18:13 Uhr)
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Alt 30.11.2015, 22:49   #29  
Peter L. Opmann
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Ich habe hier reingelesen in der Erwartung, vielleicht mit Klassikern bekanntgemacht zu werden, die ich noch nicht kenne oder zu wenig beachtet habe. Deshalb auch meine Anmerkung oben.

Ich kann ja auch mal selbst etwas beitragen - einen Roman, der wohl als Klassiker gelten kann, aber nach meiner Einschätzung wenig bekannt ist. Ich habe ihn selbst auch noch nicht gelesen. Er wird gerade als Hörbuch in Fortsetzungen im Bayerischen Rundfunk präsentiert.

Laurence Sterne: Tristram Shandy (1759 - 1766)

Dazu schreibt der BR:

Zitat:
Tristram Shandy ist ein einzigartiges Werk in der Literaturgeschichte: Erschienen zwischen den Jahren 1759 und 1767, experimentiert Sterne in diesem neunbändigen Roman selbstbewusst mit der Form. In einer Zeit, als der Roman selbst noch nicht klar definiert oder gar etabliert ist, lotet Sterne bereits dessen Grenzen aus, spielt mit der Wirkung auf seine Leser und lässt wie nebenbei fragwürdig erscheinen, wie er überhaupt erzählen kann, wovon er vorgibt, erzählen zu wollen: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman.

Verspricht der Titel nämlich eine wohlgeordnete und fein aufbereitete, womöglich auf ein Ziel hin erzählte Lebensgeschichte, so enttäuscht der Erzähler diese Erwartungen sofort. Eine stringente Biografie beinhalten die neun Bände sicherlich nicht. Stattdessen prägt den Roman eine assoziative Struktur: Vor und zurück blickt der Erzähler, der sich nicht an eine Chronologie halten mag; ebenso wechselt sein Gestus - von beißender Satire oder einem spöttischen Ton bis zu pathetischen Beschreibungen. Und auch optisch verrät Sternes Roman, dass er sich nicht an das hält, was seine Gattung bisher auszeichnete.

Das Vorwort leitet die Geschichte nicht ein, es wird stattdessen nachgereicht, mitten in der Erzählung. Und die wiederum ist gespickt mit Auffälligkeiten: mit Auslassungen, Reihen von Sternchen-Symbolen, oder mit ganzen Kapiteln, die fehlen. Andere Seiten sind dafür ganz in schwarz gehalten, gefüllt mit Druckerschwärze, nicht mit sinnerfüllten Zeichen.

All das sind Hinweise darauf, dass die Ordnung hier bewusst gebrochen wird, dass Autor und Erzähler Freigeister sind, die weniger an einer Biografie interessiert sind als an der bis heute bestehenden Frage, ob sich eine solche erzählen lässt. (...)
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Alt 02.12.2015, 15:36   #30  
Servalan
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Standard Joseph Conrad: Nostromo (1904)

Penguin Popular Classics [PPC], 463 Seiten
https://de.wikipedia.org/wiki/Nostromo
https://en.wikipedia.org/wiki/Nostromo
http://gutenberg.spiegel.de/buch/nostromo-3033/1
http://www.bookrags.com/studyguide-nostromo/#gsc.tab=0

Drehbuchautor und Regisseur Dan O'Bannon schätzte (wie Ridley Scott) diesen Roman von Joseph Conrad so sehr, daß er den Raumfrachter in Alien danach taufte.
Heute empfinden viele Leute eine ausführliche Einleitung, in der die Figuren und Themen vorgestellt werden, als langweilig. In dieser Hinsicht genießt Nostromo den Vorteil, gleich in die Materie zu gehen. Die erste Szene läßt auch heute noch die meisten Actionfilme blaß aussehen.

Schon die Spanier haben im südamerikanischen Costaguana Silber aus den Bergen geholt. Jetzt gehört die Silbermine San Tome in Sulaco dem Unternehmen des englischstämmigen Charles "Don Carlos" Gould, dem "König von Sulaco", in dritter Generation.
Wenn das Silber aus den Bergen zum Dampfschiff Minerva transportiert wird, herrscht Ausnahmezustand. Geschützt von einem bewaffneten Kordon rast eine schwer beladene Kutsche im Höllentempo von der Mine bis an die Küste, und was sich ihr in den Weg stellt, wird niedergefahren. Nichts und niemand darf diesen Transport unterbrechen.
Leider liegt Sulaco vor einer Lagune, weshalb das Silber zunächst von der Kutsche in eine Schaluppe umgeladen muß, bevor es auf den Frachter des Kapitäns Giovanni Battista Fidanza kommt.
Nostromo ist der Spitzname Fidanzas, der als Capataz de Cargadores, als Boss der Schauerleute gilt. Wenn es brenzlig wird, kann sich "Don Carlos" auf seinen Mann ('nostro uomo' auf Italienisch) verlassen.
Damit alles so weiterläuft wie bisher, bedenkt die Minengesellschaft den Gouverneur der Provincia Occidental (Westprovinz) mit Geschenken. Erschwert wird das laufende Geschäft durch den wachsenden Unmut der Bevölkerung, weshalb mit einer Rebellion gerechnet wird.
Nostromo soll dafür sorgen, daß trotz der Unruhen das Silber wie üblich verschifft wird und daß das Geschäft weitergeht. Sollte der Aufstand in der Republik Costaguana erfolgreich sein, planen Politik und Wirtschaft einen Putsch: Dann wollen sie die Westprovinz für unabhängig erklären und ihre eigene Regierung einsetzen ...

Im deutschen Sprachraum wird Conrad häufig auf seine epochemachende Novelle Heart of Darkness und The Secret Agent, seinen stilbildenden Spionageroman (verfilmt von Alfred Hitchcock), reduziert. Conrad hat Besseres verdient.
Nostromo hingegen liegt im toten Winkel der Aufmerksamkeit, obwohl ihm hier das Kunststück gelingt, einen Abenteuerroman vorzulegen, der in über hundert Jahren nichts von seiner Kraft verloren hat. Darüber hinaus schildert er durch seine politische Fabel Mechanismen, die sich bei zahlreichen Regime Changes heute beobachten lassen.

Anglisten und Sprachliebhaber bewundern das brillante Englisch, das Conrad dezent und mit Understatement verwendet. Dort gilt Nostromo (neben Lord Jim) als sein bedeutendstes Hauptwerk.

-------------------------------------------------------------------------
@Peter L. Opmann: Tristram Shandy hätte ich ein wenig später selbst in Spiel gebracht. Bei dem Klassiker bekommt die Ausstattung des Buches eine besondere Bedeutung. Ich empfehle die Ausgabe des Haffmans Verlag in neun postkartengroßén Bänden (obwohl gebunden und im Pappschuber, sind das Bücher für die Tasche im engsten Sinne des Wortes). Ein wenig Luxus zahlt sich doppelt aus.
Allein der verquaste Ehevertrag ist schon ein herrliches Kabinettstückchen.

Geändert von Servalan (02.12.2015 um 17:52 Uhr)
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Alt 02.12.2015, 16:40   #31  
Peter L. Opmann
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Der namenlose Drehbuchautor und Regisseur dürfte Ridley Scott heißen...
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Alt 05.01.2016, 14:07   #32  
Servalan
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Zitat:
Zitat von Peter L. Opmann Beitrag anzeigen
(...), aber die SF ist heute am Ende. Es gibt keine Zukunft mehr, die man sich gern vorstellen würde, selbst eine dystopische nicht.
Genres haben meiner Ansicht nach ein gewisses Zeitfenster von mehreren Generationen, in denen sie bestimmend sind. Ritterromane und Western werden heute auch noch geschrieben, werden aber nicht umgehend im Feuilleton rezensiert.
Dann gibt es Phasen, in denen sich Genres ändern: Stoffe und Schemata werden bunt gemixt und gemasht, bis irgendwann ein neues Genre entsteht.

Viele Muster der SF finden sich mittlerweile im Krimi-/Thriller-Stoffen:
Cyberheldinnen wie Lisbeth Salander gehören inzwischen zum Repertoire.
Und wer heute eine Dystopie schreiben will, kann etwas über Zeugenschutz und neue Identitäten zu Papier bringen.
Wenn es um Hard SF geht, übertrumpfen die High-Tech-Labore der Pathologen und Forensiker die Brücken alter Raumschiffe wie der Enterprise und der Orion.
Profiler von Format eines Fitz sind die besseren Spocks.

Vor allem die Krimis von Fred Vargas sind hier ein Vorbild, weil sie sowohl vom Publikum gefeiert als auch von den Edelfedern anerkannt wird.

Geändert von Servalan (05.01.2016 um 17:20 Uhr)
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Alt 05.01.2016, 16:53   #33  
Peter L. Opmann
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Zitat:
Zitat von Servalan Beitrag anzeigen
Und wer heute eine Dystopie schreiben will, kann etwas über Zeugenschutz und neue Identitäten zu Papier bringen.
Hat Philip K. Dick schon in den 1960er Jahren geschrieben.

Meine Aussage war natürlich sehr zugespitzt. Aber ich lese die Entwicklung am Buchhandel ab: Früher gab es eine große Abteilung Science Fiction mit ein paar Fantasy-Romanen dazwischen. Heute ist die große Abteilung "Fantasy" betitelt, und mit etwas Glück steht daneben noch ein Drehständer mit SF. Und veröffentlicht werden fast nur noch mehrbändige Weltraumopern - also nur noch Stoff für die ganz harten Fans. Daraus ziehe ich die Summe: Die große Zeit der SF ist vorbei.

Dabei habe ich die Heftromane-Ära gar nicht mitbekommen. Die Stoffe waren vielleicht ein bißchen minderwertig, aber haben die Leser sicher noch mehr geprägt wie in meiner Jugend mit Heyne-, Bastei-, Knaur- oder Goldmann-Taschenbüchern.
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Alt 07.02.2016, 16:28   #34  
Servalan
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Standard Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit / Laus stultitiae / Moriae encomium (1511)

Der pure Text steht kostenlos im Projekt Gutenberg-DE bei Spiegel Online:
http://gutenberg.spiegel.de/autor/er...rotterdam-1457 (Autor: Erasmus von Rotterdam)
http://gutenberg.spiegel.de/buch/das...torheit-7105/1 (Lob der Torheit - Kapitel 1)

https://de.wikipedia.org/wiki/Lob_der_Torheit
http://www.deutschlandfunk.de/erasmu...icle_id=318666
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36166/1.html

Passend zu den Tollen Tagen der Fünften Jahreszeit möchte ich die Bühne einem kurzweiligen Klassiker geben, der im letzten halben Jahrtausend nichts von seinem Witz und seiner Ironie verloren hat.
Als die Satire erschien, wurde sie zu prompt zu einem Bestseller bei den wenigen Leuten, die entweder selbst lesen konnten oder sich jemanden leisteten, der ihnen vorlas (zu der Zeit existiert keine Schulpflicht!). Bücher waren sauteuer, die Druckindustrie mit beweglichen Lettern steckte in den Kinderschuhen (damals das Neue Medium), trotzdem verwandelte sich das Selbstlob der personifizierten Dummheit zu einem europäischen Bestseller.
Auf dem Konzil von Trient 1545 wanderte die Schmähschrift auf den Index der Römisch-Katholischen Kirche.

Erasmus von Rotterdam (irgendwann zwischen 1466 und 1469 - 1536) begann den Gepflogenheiten der damaligen Zeit entsprechend als Gelehrter und Priester unter dem Dach der Kirche. Wahrscheinlich wurde er in Rotterdam geboren und starb in Basel, die meiste Zeit seines Lebens reiste er quer durch den Kontinent und traf sich mit Geistesverwandten, daneben schwang er ständig die Gänsefeder: Er schrieb etwa 150 Bücher und verfaßte eine Unzahl Briefe, von denen über 2.000 erhalten sind.
Auf einer dieser Reisen begegnete er (Sir) Thomas Morus (1478-1535), den Verfasser des Staatsromans Utopia / De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia (1516), mit dem er sich anfreundete. Durch die historischen Fernsehserien Die Tudors und Wölfe hat der Ruf von Sir Thomas More gelitten, weil der Humanist buchstäblich über Leichen geht (er wirkt wie ein Vorläufer des "Tugendterroristen" Robespierre).
Erasmus von Rotterdam widmete More sein Lob der Torheit.

Der Theologe, Philosoph und Philologe Erasmus zog seinen Kopf durch einen Kunstgriff aus der Schlinge der Heiligen Inquisition, obwohl weiterhin das Risiko eines vernichtenden Prozesses bestand: Umständliche Widmungen der Verfasser jeglicher Schriften waren damals üblich, denn wer Theaterstücke, Sonette oder Prosa schrieb, wies so auf seinen Mäzen und Sponsor hin, der einen gewissen Schutz verhieß. Erasmus nutzt diese Mode, indem er deutlich macht, daß nicht er als Person aus Fleisch und Blut spricht, sondern seine fiktive Figur, die bloß auf dem Papier (oder Pergament) existiert. Außerdem tat er sein Werk als "Stilübung" ab.

In dem Buch entlarvt sich die Torheit, die aus dem Selbstlob gar nicht mehr herauskommt und sich ihrer grandiosen Weltherrschaft rühmt. Dabei unterstützen sie ihre Töchter (nein, nicht die Musen!), von denen jede eine christliche Todsünde verkörpert: Eigenliebe, Schmeichelei, Vergesslichkeit, Faulheit und Lust.
Diese Büttenrede hat nichts von ihrem Schmackes verloren, denn jeder bekommt sein Fett weg. Satiren bildeten damals einen Teil der völkstümlichen Unterhaltung, bei der sich auch das gewöhnliche Publikum auf die Schenkel klopfte (siehe de Costers Thyl Ulenspiegel oder Sebastian Brants Narrenschiff). Hier beginnt eine Tradition, die bis zum Kabarett und den Blogs reicht.

Viel Spaß beim Lesen!

Geändert von Servalan (07.02.2017 um 19:53 Uhr)
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Alt 07.02.2016, 23:19   #35  
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Dazu passend: Neulich habe ich antiquarisch das Buch "Über die Dummheit. Ursachen und Wirkungen" von Horst Geyer gekauft. Leider noch nicht gelesen. Es soll aber ein Standardwerk sein.

Beziehungsweise - im Klappentext heißt es: "Es gibt nur wenige Untersuchungen über die Dummheit, was angesichts der weltgeschichtlichen Bedeutung dieses Geisteszustandes einigermaßen beunruhigend ist. Aus dieser Unruhe ist dieses witzige und anregende Buch entstanden, das Prof. Geyer, Mediziner und Anthropologe, der Dummheit gewidmet hat."

Man sollte ja nicht so dumm sein, sich für klug zu halten, aber da konnte ich nicht widerstehen zuzugreifen.
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Alt 15.02.2016, 17:23   #36  
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Standard Stanisław Jerzy Lec: Unfrisierte Gedanken (1959) / Myśli nieuczesane (1957)

Sämtliche unfrisierten Gedanken. Dazu Prosa und Gedichte (Sanssouci 1996, Neuausgabe 2007), 520 Seiten
https://de.wikipedia.org/wiki/Stanisław_Jerzy_Lec

Richtig, dieser Stanisław heißt Lec und nicht Lem. Er stammt aus einer großbürgerlichen Familie, die in Ostgalizien des k.u.k.-Reiches wohnte (heute West-Ukraine). 1909 geboren, überlebte ein Konzentrationslager und schloß sich dem polnischen, kommunistischen Widerstand ein. Nach der Befreiung von den Nazis verfaßte mit dem berühmteren Marcel Reich-Ranicki (MRR) Propaganda. Zeitweise arbeitete Lec im diplomatischen Dienst, weshalb er 1966 mit einem Staatsbegräbnis geehrt wurde.

Ein Betonkopf wird er kaum gewesen sein. Nach seinem Jurastudium verfaßte er Satiren und Gedichte, bevor er 1936 im schwierigen Genre der Aphorismen zur Hochform auflief.
Im Rahmen der neuen Ostpolitik unter Willy Brandt näherten sich die Bundesrepublik Deutschland und Polen einander an. Vor diesem Hintergrund fanden sich seine ersten Zitate auf den Seiten der ZEIT. Die Rubrik "Zitate" in P.M. dürfte im Laufe der Jahrzehnte nach und nach seine gesamten unfrisierten Gedanken gebracht haben; ich erinnere mich nur an wenige Ausgaben, in denen mir kein Lec-Aphorismus begegnete.

Fasse dich kurz, lautet eine der geläufigsten literarischen Regeln. Je weniger Platz zur Verfügung steht, desto schwieriger wird es, eine überzeugende, eine verführerische Balance finden. Ergo erfordern Aphorismen eine rigorose Disziplin - zum Schluß steht fast nichts mehr da.
Verglichen damit sind Gedichte und Kurzgeschichten geschwätzig.

Während des Lesens leuchten Lecs Geistesblitze ein. Denn leicht kommen einen Situation in den Sinn, in denen einer der Sinnsprüche passend wäre. Aber wenn es soweit ist, wenn der Ernstfall eintritt, dann verpatzt einem der Schock den Triumph. Also steht man da und glotzt blöd aus der Wäsche.

Der andere Stanisław ist ein Klassiker der polnischen Literatur, den es zu entdecken lohnt.

Geändert von Servalan (16.02.2016 um 15:31 Uhr)
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Alt 19.02.2016, 16:23   #37  
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Standard Dante Alighieri: Das neue Leben / La vita nuova (zwischen 1292 und 1295)

Manesse Bibliothek Band 2, Manesse Verlag 1987, 87 Seiten (mit Anmerkungen und Nachwort)
http://gutenberg.spiegel.de/buch/vit...e-leben-7787/1 (Text bei Projekt Gutenberg-DE von Spiegel Online)
https://de.wikipedia.org/wiki/Vita_Nova
http://www.mein-italien.info/literatur/beatrice.htm
http://www.dante-gesellschaft.de/aktuelles/
http://www.enotes.com/topics/vita-nuova
http://mediaewiki.de/wiki/Der_vierfa...eri,_Vita_Nova)

Weite Teile der Medien beschäftigen sich heute mit der Liebe in all ihren Schattierungen, von der ersten zarten Schwärmerei über den ersten Kuß und das erste Zusammensein bis zu Eifersucht, Liebeskummer und Trennungsschmerz. Die meisten Geschichten, Songs oder Filme drehen sich in der Regel um gewöhnliche Menschen, wobei im Hintergrund meist unbemerkt das erfolgreiche Modell von Goethes Bestseller Die Leiden des jungen Werthers (1774) schwebt (für den Titelhelden Werther war das übrigens nicht erfolgreich, denn der ist am Schluß tot!).

Doch bis dahin war das ein weiter Weg. Und wer sich in der Geschichte und der Literatur auskennt, stößt vergleichsweise früh auf eine Epoche in noch prüdere Geschichten revolutionär und epochemachend gewesen sind.
Ende des 13. Jahrhunderts (um die Zeit spielt auch Ecos Der Name der Rose) war Europa eine rückständige Halbinsel von ungebildeten Despoten, die mit ihren Gangs raubten und plünderten, wenn sie ihre winzigen Fürstentümer und Königreiche vergrößern wollten. Was die muslimischen Araber vor dem Untergang der Antike gerettet hatten, wurde in Klöstern wachsam gehütet und mühsam von Hand kopiert.
In der Frührenaissance entdeckten reiche Fürstenfamilien wie die Medici, die Este und später die Borgia die Überreste der versunkenen Antike für sich: Dabei reichte das Spektrum von antiken Fundstücken und Ruinen, die in privaten Kunst- und Wunderkammern am Hofe gesammelt wurden (die Vorläufer der Museen), bis zu einen Revival (Renaissance ~ Wiedergeburt) der wiederentdeckten Traditionen.

Der Florentiner Dante Alighieri (1265-1321) schlug nach seinem Studium eine politische Laufbahn ein. Zu dieser Zeit wurde die italienische Halbinsel durch Krieg zwischen Guelfen und Ghibellinen geprägt, weshalb gewonnene oder verlorene Schlachten politische Karrieren bestimmten.
Leider zog Dante den kürzeren, wurde mit den Kirchenbann belegt und in Abwesenheit zu einer hohen Geldstrafe und zur Niederlegung all seiner öffentlichen Ämter genötigt. Deswegen mußte er fortan Florenz meiden und suchte sich in anderen Fürstentümer Schutzherren, für die er als Philosoph und Dichter tätig war.

Im Mittelalter galt eine strikte feudale Hierarchie, lediglich hinter Klöstermauern war sein sozialer Aufstieg möglich. Der Adel sicherte sich durch dynastische Heiraten seine Privilegien, und das Gesinde war häufig zu arm, um sich eine Heirat leisten zu können. Liebe und Leidenschaft gab es trotzdem, allerdings eher im Schatten des Rechts. Das römische Latein wurde zum Standard, obwohl (oder gerade weil) das gewöhnliche Volk schon längst andere Dialekte sprach.

Dantes Liebe zu seiner angeschmachteten Beatrice mischt in 42 kurzen und kürzesten Kapiteln in italienischer Umgangssprache Prosa und Gedichte in unterschiedlichen Formen. Einerseits greift er die mittelalterliche Minneliteratur auf, da seine Sehnsucht zu der unerreichbaren Adligen nicht über Schwärmerei herauskommt und das Edelfräulein Beatrice jung verstirbt. Andererseits dürfte das die erste Coming-of-Age-Story der europäischen Weltliteratur sein. Was Cervantes durch das als Dulcinea del Toboso von Don Quijote angehimmelte Bauernmädchen verspottet, ist gut 300 Jahre vorher bei Dante tragisch ernst gemeint.

Wer vor der wortgewaltigen Göttlichen Komödie (1307-1320) zurückschreckt, findet hier ein schmales Bändchen, mit dem sich Leute identifizieren können, die zum ersten Mal Schmetterlinge im Bauch haben und himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt sind. Das ist Dante for Beginners!

Geändert von Servalan (19.02.2016 um 17:48 Uhr)
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Alt 01.03.2016, 18:49   #38  
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Standard Émile Zola: Geld / L'Argent (1891)

diverse Ausgaben, darunter Die Andere Bibliothek Band 28 Greno 1987 sowie in der Literaturkassette zum 100. Band der Anderen Bibliothek Eichborn 1993, zuletzt Insel Verlag 2012
https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Geld_(Zola)
https://fr.wikipedia.org/wiki/L'Argent
http://gutenberg.spiegel.de/buch/das-geld-5845/1 (Volltext)
http://www.tagesspiegel.de/kultur/li...g/1150854.html

Vor und nach Émile Zola hat es etliche Autoren gegeben, die das gesellschaftliche Leben ihrer Epoche in Zyklen oder Reihen von Romanen geschildert haben: Zu den berühmtesten gehören Hooré de Balzacs La Comédie humaine (Die menschliche Komödie), Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) oder Thomas Hardys Wessex-Romane. Ähnlich wie Fernsehserien heutztage bieten diese locker miteinander kombinierten Werke ein breites Panorama, das sich meist über mehrere Generationen und durch die unterschiedlichsten Milieus erstreckt.

Zola hat einige Jahre Pressearbeit bei dem Pariser Verlag Hachette geleistet, bevor er zunächst politischer Journalist und dann Romancier geworden ist. Sein 20-bändiges Opus Magnum, der Romanzyklus um die Familie Rougon-Macquart (Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, deutsch: „Die Rougon-Macquart. Die Natur- und Sozialgeschichte einer Familie im Zweiten Kaiserreich“) entstand über mehr als 20 Jahre, nämlich von 1869 bis 1893.
Ursprünglich plante Zola ein Abbild seiner Epoche, des Zweiten Kaiserreichs unter Napoleon III. 1852 bis 1870. Als die letzten Bände in den Handel kamen, war sein naturalistischer Positivismus allerdings schon wieder aus der Mode gekommen. Unter dem schriftstellerischen Nachwuchs, den er in seinem Landhaus in Médan bewirtete und betreute, befanden sich Abtrünnige wie Joris-Karl Huysmans, deren moderner Mystizismus seine Werke altbacken aussehen ließ. Zolas Engagement in der berüchtigten Dreyfus-Affäre ließ seine Auflagenzahlen weiter sinken.

Irgendwie braucht ein solch anspruchsvolles Projekt ein bindendes Konzept und das fand Zola in der Wissenschaft. Zoila tastete sich Stück für Stück an den Punkt heran, an dem für ihn alles klar und folgerichtig wird. Seine Duftmarke setzt er in seinem dritten Roman Thérèse Raquin (1867), einer Dreiecksgeschichte, mit dem ihm der Durchbruch gelingt. Für damalige Verhältnisse war der Bestseller experimentell, aber Zola baut in seinem Vorwort seinen Ansatz zu einer Formel aus: Gefeierte Wissenschaften der damaligen Zeit wie eine deterministische Biologie (Vererbung) vermischen sich mit Milieus, die in Leitartikeln gehandelte Probleme (sogenannte Arbeiterfrage, Frauenfrage, Alkoholismus usw.) als Familiendramen abhandelt.

Ich habe mich für Zola entschieden, weil er damit ein Muster liefert, das noch heute üblich ist und auch in anderen Medien angewandt wird. Seine thematische Fokussierung liefert gewissermaßen die Blaupause für all die erfolgreichen Krimireihen, von Maj Sjöwalls und Per Wahlöös Martin-Beck-Zyklus über Henning Mankells Wallander-Romane bis zum Tatort.

Natürlich schwankt die Qualität innerhalb der Rougon-Macquart beträchtlich: Unbestritten zur Weltliteratur gehören eigentlich nur die beiden Romane Nana (Band 9 über das Theater-Milieu, 1880) und Germinal (Band 13 über Bergarbeiter, 1885). Die meisten Bände zählen zum literarischen Mittelfeld, was heißt: sie lassen sich immer noch gut schmökern, aber sie reißen einen nicht vom Hocker. Je nach persönlichen Interessen lassen sich deshalb verschiedene Einzelbände empfehlen.

Geld (Band 18) wurde das letzte Mal in der Finanzkrise 2008 wiederentdeckt. Zu der Zeit entstanden Dutzende von Rezensionen, Artikeln und Beiträgen in politischen Zeitschriften wie zum Beispiel Berliner Republik, außerdem wurde der Roman als dreiteiliges Hörspiel bearbeitet.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten Kanäle (Panama, Suez, Nord-Ostsee-Kanal) und Eisenbahnen (Wettrennen der Unternehmen in den USA) finanzielle Prestigeprojekte dar. Zola zeichnet allerdings ein desillusionierendes Bild der Finanzindustrie.
Der Ingenieur Georges Hamelin ist ein Idealist, der davon träumt, durch ein Eisenbahnnetz im Mittleren Osten Pilger an die wichtigsten Stätten des Christentums zu befördern. Leider fehlt ihm das Geld. Deswegen wendet er sich an seinen Nachbarn Aristide Saccard, der Erfahrungen an der Pariser Börse hat. Saccard verschweigt Hamelin, daß er bankrott ist, und gründet mit ihm ein gemeinsames Finanzunternehmen, die Banque Universelle.
Kurz darauf befindet sich der praktisch veranlagte Hamelin auf Reisen. In seiner Begeisterung hat er Freunde und Verwandte von seinem Projekt überzeugt, die ihre Notgroschen ihm zuliebe in Kleinaktien angelegt haben. Hamelins Vertrauen scheint gerechtfertigt, schließlich steigt der Kurs.
Aber Saccard hat andere Pläne, Banque Universelle ist für ihn nur Mittel zum Zweck. Mithilfe seines Bruders, des Ministers Eugène Rougon, will Saccard den ihm verhaßten jüdischen Bankiers eins auswischen und manipuliert deshalb die Kurse ...

Geändert von Servalan (01.03.2016 um 20:18 Uhr)
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Alt 04.03.2016, 13:39   #39  
blubbblubb
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Der Name der Rose ist gut, das Buch habe ich noch nie gelesen.
Aus aktuellem Anlass sollte cih das mal in Angriff nehmen. Bisher kenne ich Kulturbanause nur den Film.
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Alt 09.03.2016, 15:56   #40  
Servalan
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Standard William Shakespeare: Shakespeares Sonette / Sonette (1609)

diverse Ausgaben, darunter Manesse Bibliothek der Weltliteratur 1983, 308 Seiten (zweisprachige Ausgabe).
https://de.wikipedia.org/wiki/Shakespeares_Sonette
https://en.wikipedia.org/wiki/Shakespeare's_sonnets
http://gutenberg.spiegel.de/buch/sonette-2186/1 (Volltext)
http://www.literaturkritik.de/public...p?rez_id=10324
http://www.nachtkritik.de/index.php?...liner-ensemble
http://www.mellow-melange.de/index.php?pid=179&thema=

Im Post #37 habe ich mich mit Dante Alighieri schon einmal der Liebeslyrik zugewandt. Ich muß gestehen, daß ich persönlich erzählerische Verse (Balladen, Epen und Dramentexte) blumigen Befindlichkeitszeilen vorziehe. Shakespeares Bühnenklassiker habe ich ziemlich bald um einen Band mit seinen 154 Sonetten ergänzt.

Einen Zeitstrahl von Dantes 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart teilen Shakespeares Sonette fast in der Mitte. Durch den Blick in die Vergangenheit verzerren sich die Zeiten, denn die älteren Jahrhunderte rücken dichter zusammen und täuschen dadurch unser Zeitgefühl.

Das London der Shakespeare-Zeit war eine boomende Metropole, obwohl die gut eine Million Einwohner (aus heutiger Perspektive) fast kleinstädtisch wirken. Der aus den Kolonien importierte Wohlstand zeigte seine Pracht in der Kultur der elisabethanischen Metropole, die mit einem Bein im Mittelalter stand und mit dem anderen in der Neuzeit.
Distanzen wurden nach Tagesritten gemessen, so daß die Karibik (das vermeintliche West-Indien) und Venedig oder Böhmen zu fernen Sehnsuchtsorten werden konnten.
Die Straßen waren laut, stanken nach Fäkalien und Pferdekot, doch wer sich unter Leute wagte, tat das auf eigene Gefahr. Gangs und Banden zogen durch die Viertel, und wer sich nicht wehren konnte, wurde überfallen oder vergewaltigt.
Dennoch pulsierte in den Gasthöfen und den übel beleumundeten Theatern das pralle Leben. Die ziehenden Gauklertruppen jedoch wurden scheel angesehen, und was für die Bühne verfaßt wurde, galt als billige Unterhaltung - einerlei, ob die Queen und die Pairs Beifall klatschten oder nicht.

Wer sich in der Literatur eine Reputation erringen wollte, mußte Verse schmieden. Sonette in der Tradition des italienischen Dichterfürsten Petrarca waren damals so beliebt wie heute Haikus und Hiphop. Virginia Woolf beschreibt diese höfische Atmosphäre in den ersten Kapiteln ihres Romans Orlando anschaulich. Hoher und niederer Adel bürgte mit seinem Namen (der sich in der obligatorischen Widmung findet) dafür, daß Sitte und Anstand eingehalten werden. Selbstgeschriebene Sonette trugen die Peers in ihren exklusiven Salons oder anderen Festen dem ausgewählten Publikum vor.

Trotz all seiner Werke bleibt Shakespeare mehr ein Phantom als ein Mensch mit einer lückenlosen Biographie. Sein kanonisierter Status befeuert die Phantasie, mit der die erhaltenen Bruchstücke zu einer Verschwörungstheorie angeordnet werden. Nach dieser Lesart ist Shakespeare das Pseudonym einer Berühmtheit aus den obersten Kreisen der Gesellschaft: Je nach Interpret wird sein Name zur Sockenpuppe für Sir Francis Bacon, Sir Christopher Marlowe (schwuler Dramenautor und Spion, der erstochen wurde), Edward de Vere, 17th Earl of Oxford oder einer Gruppe von Künstlern, Wissenschaftlern und Adligen.

Mit der Forschung ändern sich die Ansichten, und das letzte Wort in dieser Hinsicht ist nicht gesprochen. Doch verglichen mit Dante ist Shakespeare mutiger, lebhafter und geht ästhetische Risiken in einer sehr konservativen Gesellschaft ein (zum Beispiel galten vergewaltigte Frauen als entehrt und konnten deswegen von ihren Vätern, Brüdern oder dem Ehemann umgebracht werden).

Die 154 Sonette bilden einen Großzyklus, der eine Dreiecksgeschichte erzählt. Im Mittelpunkt steht ein lyrische Ich, den klassischen Lobgesang auf eine "fair lady" (eine Dame des Hochadels) auf zwei Weisen bricht und grosso modo den Weg in die literarische Moderne bereitet. Denn das Ich schwärmt zuerst für einen "fair boy" (also ein homosexuelles Verhältnis), später für eine "dark lady" (die dem konventionellen Schlönheitsideal nicht entspricht). Unterbrochen und aufgelockert wird der Liebesreigen durch jugendliche Klagen über die Ungerechtigkeit des Lebens und einen bohrenden Weltschmerz.

Regelmäßig findet sich Bearbeitungen für moderne Theateraufführungen, Vertonungen oder Hörbücher dieses fast schon zeitlosen Klassikers.

Geändert von Servalan (09.03.2016 um 16:45 Uhr)
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Alt 16.03.2016, 11:31   #41  
Peter L. Opmann
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Heute bringt die Süddeutsche eine größere Geschichte zum Thema "Schullektüre". Finde ich sehr interessant. Fünf Lehrer wurden gefragt, was sie im Unterricht lesen lassen, was sich für die Schule nicht eignet und womit sie selbst einmal gescheitert sind. Außerdem gibt es einen allgemeinen Artikel mit weiteren Lehrerstimmen. Manche Bücher sind natürlich für Jüngere. Das ist dabei herausgekommen:

Was lesen?
- Ursula Poznanski: Erebos
- Louis Sachar: Löcher. Die Geheimnisse von Green Lake
- Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker
- E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann
- Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen
- Theodor Storm: Der Schimmelreiter
- Georg Büchner: Woyzeck
- J. W. Goethe: Iphigenie auf Tauris
- Dave Eggers: The Circle
- Juli Zeh: Corpus Delicti
- Henriette Wich: Die drei Ausrufezeichen – Tatort Kreuzfahrt
- Jay Asher: Tote Mädchen lügen nicht

Was keinesfalls lesen?
- Joanne Rowling: Harry Potter
- Michel Houllebecq: Karte und Gebiet / Elementarteilchen
- Wolfgang Herrendorf: Tschick
- Bücher von Georg Klein
- Juli Zeh: Corpus Delicti
- Bernhard Schlink: Der Vorleser
- Philip Roth: Das sterbende Tier
- Camilla Läckberg: Die Schneelöwin

Was hat im Unterricht nicht funktioniert?
- Theodor Storm: Der Schimmelreiter
- Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues
- Friedrich Schiller: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua
- Friedrich Schiller: Die Räuber
- Friedrich Ani: Wie Licht schmeckt

Man sieht: Manche Bücher kommen in mehreren Kategorien vor. Von dem, was heute in der Schule gelesen wird, kenne ich einiges nicht, muß ich gestehen. Aber vielleicht sind das ja teilweise interessante Empfehlungen.
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Alt 16.03.2016, 13:57   #42  
Servalan
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Heute wird aus meiner Sicht wesentlich mehr Gegenwartsliteratur unterrichtet als zu meiner Zeit. Ein weiterer wichtiger Faktor dürfte der Schultyp sein: Klassisch-bildungsbürgerliche altsprachliche Gymnasien oder (möglicherweise noch kirchliche) Internate wie Salem dürften die letzten Dinosaurier sein, die lang gehegte Traditionen pflegen und die Schülerschaft mit Stoffen traktieren, die den Jungen nicht gefallen soll. Gymnasien neueren Typs, Privatschulen und die Sekundarstufen I und II an Fachhochschulen oder anderen weiterführenden Schulen schleppen weniger Ballast mit sich. Ohne die Pflichtfächer Latein und/oder (Alt-) Griechisch reduziert sich zum Beispiel die Antike auf ein Minimum.

Naja, die Kategorie "Was nicht lesen?" finde ich aufschlußreich.
Diese Romane scheinen die Pennäler von sich aus zu lesen, ergo scheiden die aus.
Das erinnert mich an Honeckers hilflosen Umgang mit Beatmusik und Rock'n'Rocll, der gar nicht kapieren konnte, was die Jugend seines Landes an diesen merkwürdigen Tönen so begeistert hat. Sein "Jeh, jeh, jeh" klingt in meinen Ohren sehr nach Altersschwerhörigkeit.

Und durch die G8-Bildungsreform und Bologna quillt der Lehrplan heute über. Kein Wunder, daß schon Kinder mit Ritalin und anderem Zeugs gedopt werden, um das Bulimie-Lernen zu verinnerlichen.
Aus meiner eigenen Erfahrung gerät dabei aus dem Blick, welche Rolle die Lehrerinnen und Lehrer selbst spielen. Ein guter Pädagoge kann seine Klasse für die unmöglichsten Dinge und Sachen begeistern, aber so etwas läßt sich nicht aus dem Hut zaubern.
Zu allererst müssen seine Kompetenzen sattelfest sein, und die Klasse muß spüren, daß sich die oder der da vorne nichts vormachen läßt.
Gute Konzepte brauchen Zeit, und die hat heute anscheinend niemand mehr. Und wer in einer Theater AG alte Stücke live auf die Bühne bringt, wird anders darüber denken als die Mitschüler, die sich mühsam durch die Pflichtlektüre quälen, weil die Note stimmen muß.
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Alt 19.03.2016, 16:37   #43  
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Standard Gilbert Keith Chesterton: The Man Who Was Thursday / Der Mann, der Donnerstag war (1907)

http://www.gutenberg.org/ebooks/1695
http://www.chesterton.org/lecture-10/
http://www.booksandculture.com/artic...jun/10.30.html
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Man_Who_Was_Thursday
https://de.wikipedia.org/wiki/G._K._Chesterton
https://en.wikipedia.org/wiki/G._K._Chesterton

Damit diese Kolumne abwechslungsreich bleibt, springe ich in den Zeiten und Epochen hin und her: Pro Seite beschränke ich mich deshalb auf eines oder zwei Werke, die älter als 600 Jahre sind; zum anderen habe ich ein persönliches Faible für Geschichten, die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind.
(Außerdem kann ich meine Erziehung nicht leugnen: Zu meiner Schulzeit waren sowohl der Lehrplan als auch das Angebot in den Buchhandlungen und Bibliotheken ziemlich europalastig. Häufig gab es nur bereinigte, gestraffte und gekürzte Fassungen von außereuropäischen Klassikern. Der jeweilige Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse lieferte einen Anlaß für eine Stippvisite und einige Appetithäppchen.
Durch den Boom der Nachkriegszeit und die Begeisterung für die Jugendkultur der USA wurden angelsächsische Bücher quasi allgegenwärtig. Lektüren im Englischunterricht kamen später dazu.)

G.K. Chesterton fällt in diese Epoche des technischen Aufbruchs und des gesellschaftlichen Umbruchs. Seine berühmteste Schöpfung ist der spitzfindige Pater Brown (im Original Father Brown), der in mehreren Bänden von Kurzgeschichten der Polizei auf die Sprünge hilft oder Verbrechen verhindert. Allerdings wird er wenig gelesen - es sei denn, von Leuten, die das Kriminalgenre studieren oder Anglisten. Die meisten kennen diese scheinbar biedere Figur aus dem Kino, aus Fernsehserien oder Hörspielen. Dieser Erfolg erweckt einen falschen Eindruck.
G.K. läßt sich nicht auf Pater Brown reduzieren, vielmehr gehörte der Journalist, Romancier und Essayist zu den umtriebigen Vielschreibern. Die englische Wikipedia schätzt sein imposantes Werk auf 80 Bücher, mehrere hundert Gedichte, über 200 Kurzgeschichten, um die 4.000 Essays sowie einige Theaterstücke.
Bei dem Pensum schleichen sich gewisse Routinen ein, die sich in seiner Vorliebe für bestimmte Redefiguren zeigt. Ihnen verdankt er seinen Spitznamen "prince of paradox". Wenn er scheitert, liest sich das heutzutage pubertär-pennälerhaft, andererseits kippt sein satirischer Humor oft ins Bizarre und Skurrile, wodurch er manchmal wie ein übervorsichtiger Vorläufer von Monty Python's Flying Circus wirkt.

Diese Masche hat Chesterton in etlichen Werken durchsexerziert. Dabei unterfüttert er seine Stories mit christlichen Allegorien (der Anglikaner trat später zur Römisch-Katholischen Kirche über), wodurch sie so etwas wie Koans in Cinemascope werden. Neben zahlreichen Hommagen wurden seine besten Ideen immer wieder von anderen abgekupfert.
Das trifft auch auf sein Hauptwerk, Der Mann, der Donnerstag war, zu: Die Szene mit den vermummten Verschwörern auf den ersten Seiten von Tim und Struppi: Die Zigarren des Pharaos lehnt sich deutlich an eine frühe Schlüsselszene des metaphysischen Thrillers an.

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderte grassierte im Vereinigten Königreich die Angst vor Terroristen. Unter den Exilanten aus Osteuropa wurden anarchistische Spione vermutet, die mit ihren Netzwerken die Gesellschaft untergruben und schlimmstenfalls Revolutionen anzetteln konnten. Hier kommen verdeckte Ermittler ins Spiel, denn auch neunmalkluge Besserwisser aus den höchsten Kreisen liebäugeln mit radikalen Ideen.

Im London King Edwards VII wird Gabriel Syme von Scotland Yard rekutiert, der einen anarchistischen Kreis infiltrieren und außer Gefecht setzen soll. Syme empfiehlt sich, indem er auf einer Party des Poeten Lucian Gregory den Gastgeber in ein Streitgespräch verwickelt. Die beiden Debattierenden verbeißen sich ineinander, bis Gregory Syme vorschlägt, ihn in den Obersten Rat der Anarchisten Europas einzuschleusen.
Der besteht aus sieben Personen, die sich konspirativ treffen und nur unter ihren Decknamen kennen, die den Wochentagen entsprechen. Symes Alter Ego lautet Donnerstag.
Allerdings schöpft der schon beim ersten Treffen in einem Hotel den Verdacht, daß noch andere mit gezinkten Karten spieler. Alle Verschwörer tragen falsche Bärte, Perücken und ähnliche Accessoires, und nicht immer wirken die Legenden überzeugend.

Das flotte Erzähltempo täuscht über die episodische Struktur der Scharade hinweg, im Grunde besteht die Nummernrevue aus witzigen Pointen, verblüffenden Kehrtwenden und einem irrwitzigen Überbietungswettbewerb, der irgendwann zu Slapstick wird. Verglichen damit bleiben Chestertons Figuren blass.
Deshalb liest sich sein Meisterwerk wie eine Reihe von Kabinettstückchen.

Geändert von Servalan (23.03.2016 um 11:29 Uhr)
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Alt 23.03.2016, 17:51   #44  
Servalan
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Standard J.B. Heinrich Savigny und Alexandre Corréard: Schiffbruch der Fregatte Medusa (1818 / 1821)

Der vollständige Titel lautet: Schiffbruch der Fregatte Medusa auf ihrer Fahrt nach dem Senegal im Jahr 1816, oder vollständiger Bericht von den merkwürdigen Ereignissen auf dem Floß, in der Wüste Sahara, zu Saint-Louis und in dem Lager zu Dakar / Naufrage de la frégate La Méduse, faisant partie de l'expédition du Sénégal, en 1816 ; relation contenant les événements qui ont eu lieu sur le radeau, dans le désert de Sahara, à Saint-Louis et au camp de Daccard ; suivie d'un examen sous les rapports agricoles de la partie occidentale de la côte d'Afrique, depuis le Cap-Blanc jusqu'à l'embouchure de la Gambie
Deutsche Ausgaben Greno 1987 (139 Seiten), zuletzt Matthes & Seitz 2005
http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt...0Méduse.langFR (Volltext in Französisch)
https://fr.wikipedia.org/wiki/Le_Radeau_de_La_Méduse

Neben den wichtigen und bedeutenden Werken gehören zur Klassik im weitesten Sinne auch die Arbeiten der Pioniere, die zur Entwicklung beitragen, obwohl sie nur selten vom Publikum gewürdigt werden oder nur Spezialisten bekannt sind. Ein gelegentlicher literaturgeschichtlicher Blick hilft einem, eigene Vorurteile oder Wissenslücken zu erkennen, manchmal verändern sie Perspektive. Meist sind Stoffe nämlich vieler älter als gedacht. Wenn diese Werke zurecht kanonisiert worden sind, werden sie regelmäßig wiederentdeckt, nachgedruckt und für jüngere Generationen neu aufgelegt.

Diesmal habe ich mir einen frühen dokumentarischen Roman herausgepickt, der ein ein ganzes Land in Aufruhr versetzt, die Regierung erschüttert und die Schiffahrt selbst revolutioniert hat. Den Untergang der Fregatte Medusa kennen heute sogar diejenigen, die keine Ahnungen haben, was damals eigentlich passiert ist:

England und Frankreich pokerten in den Napoleonischen Kriegen auch um Kolonien, und 1816 war Frankreich im Vorteil, weshalb es die westafrikanische Kolonie Senegal zurückgewinnen konnte. Eine der vier Fregatten, die Siedler in die Kolonie bringen sollte, war die "Méduse". Der Kapitän hatte zwar die erwünschte Gesinnung, als Emigrant aber kaum Erfahrung auf hoher See. Die "Méduse" läuft auf Grund, aber es gibt nur sechs Rettungsboote. Von den gut 400 Passagieren und Crewmitgliedern retten sich knapp 149 vor dem nassen Tod auf ein rasch zusammengezimmertes Floß. Nur 15 Personen überlebten die zehn Tage auf dem Meer. (Weitere Details siehe Wikipedia)

Von der Resonanz läßt sich das Desaster mit dem Untergang der "Titanic" hundert Jahre später vergleichen.

Über das Monumentalgemälde Das Floß der Medusa / Le Radeau de la Méduse (1819) von Théodore Géricault (1791–1824), das heute im Louvre hängt, schreibt sich der Schiffbruch bis heute in die populären Medien und die hohen Künste ein. Zitate und Anspielungen finden sich in Hergés Tim und Struppi wie in René Goscinnys und Albert Uderzos Astérix. Der Stoff wird immer mal wieder zum Anlaß für Romane, Filme und Musik.

Zwei der Überlebenden, der Arzt Heinrich Savigny und der Ingenieur-Kartograph Corréard, faßten ihre Empörung in Worte und landeten damit einen veritablen Bestseller. Gut 150 Jahre vor Truman Capotes Kaltblütig / In Cold Bood (1965) und vor David Simons erzählerischem Journalismus über das Morddezernat (Homincide 1991) und die Drogenszene in Baltimore (The Corner 1997) entsteht so ein einflußreiches Dokument über menschliche Abgründe und Hoffnungen.

Die Unsicherheiten der damaligen Gesellschaft spiegeln sich in der Sprache, die mehr verrät, als es zunächst scheint. Der schwülstig-barocke Titel folgt noch der ehrwürdigen Tradition der Berichte stolzer Seefahrer, die unter Lebensgefahr Weltumsegler begleitet haben (wie Georg Forster).
Aber Heinrich Savigny und Corréard sind moderne positivistische Wissenschaftler, die nüchtern Fakten aufzählen und Listen nicht scheuen. Zu der Zeit muß das Publikum ähnliche Werke wie Defoes Robinson Crusoe und Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg im Hinterkopf gehabt haben, die letztlich immer etwas Gutes bewahrt haben.

Wie später bei Truman Capote zerstören auch hier die Autoren eine Idylle, wodurch der Bericht etwas Dystopisches bekommt. Der schonungslose Bericht zeigt, wozu gewöhnliche Menschen in Extremsituationen fähig sind. (In ihrer Not haben sich die Überlebenden kannibalisch ernährt.)

Geändert von Servalan (01.08.2016 um 18:15 Uhr)
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Alt 13.04.2016, 17:24   #45  
Servalan
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Standard Ben Johnson: Volpone, or The Fox / Volpone oder Der Fuchs (1605 oder 1606)

diverse Ausgaben, unter anderem in: Ben Johnson: Three Comedies (Penguin Classics), Seite 35-171.
http://www.gutenberg.org/ebooks/4039 (Volltext)
http://www.dtver.de/downloads/leseprobe/f----425.pdf (Volltext, deutsche Übersetzung von Stefan Zweig)
https://de.wikipedia.org/wiki/Volpone
https://en.wikipedia.org/wiki/Volpone

Wenn sich Gauner gegenseitig austricksen wollen, beginnt eine schwarze Komödie, die tief blicken läßt. Ein betrogener Betrüger allein wirkt langweilig, altmodisch und oft belehrend, da bleibt der Genuß auf der Strecke leicht auf der Strecke. Sobald aber jeder glaubt, er könne seine Konkurrenten übers Ohr schlagen und den fetten Reibach absahnen, wird es lustig und mancher Witz erweist sich als Bumerang.
Auf diese Weise bleibt das Spiel offen.

Zu den besten Gaunerkomödien zählt Ben Johnsons rasantes Drama Volpone, or The Fox, das auch heute noch erfolgreich inszeniert und öfter mal verfilmt wird. Johnson bemüht sich gar nicht um Realismus, lieber nutzt die Möglichkeiten der Fabel und überzeichnet Typen wie in einer Karikatur. Wer wollte, konnte die lebendigen Vorbilder erkennen ...
Johnson rangierte in der Gunst des Londoner Publikums an der Spitze und stritt sich mit Shakespeare und Christopher Marlowe um die vordersten Plätze.

Ein verdorbenes, gieriges und zugleich elegant prunkendes Venedig gibt die Kulisse für die Posse um Volpone ab, den Fuchs, der ein Kabinett von Erbschleichern anlockt, um ihnen das Fell (oder das Gefieder) über die Ohren zu ziehen.
Sein Diener Mosca, die Fliege, verbreitet das Gerücht, der steinreiche Volpone liege im Sterben und werde seiner Krankheit erliegen, an der der Patrizier schon lange leidet. Nach und nach stellen sich Voltore, der Geier (ein Rechtsanwalt), Corbaccio, der Rabe (ein alter Adliger) und Corvino, die Krähe (ein Kaufmann) ein, natürlich mit einschmeichelnden Geschenken.
Schillernde Nebenfiguren vervollständigen das Ensemble: Corbaccios Sohn Bonario, der seinen Vater davor hüten will, in sein Unglück zu laufen, und zum Dank enterbt wird; ein englischer Ritter mit verblasenen politischen Ambitionen (Sir Politic Would-Be) mit seiner papageienhaften Gattin; Pilger, ein Reisender mit mehr Grips; der Zwerg Nano, der Hermaphrodit Androgyno, der Kastrat Castrone und die Richter von Venedig.

Venedig sehen ... und erben, so lautete der kalauernde Titel einer Verfilmung aus den 1960er Jahren.

Geändert von Servalan (26.04.2016 um 11:28 Uhr)
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Alt 25.04.2016, 16:58   #46  
Peter L. Opmann
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Die Augsburger Allgemeine hat die Aktion der Süddeutschen vom März wiederholt, Lehrer zu fragen, was sie als Schullektüre empfehlen und was nicht. Die Geschichte war am Samstag im Feuilleton.

Das sagen Augsburger Lehrer:

Was sollten Schüler lesen?
- Wolfgang Herrendorf: "Tschick" (ist aber wohl zu dick)
- Das Tagebuch der Anne Frank
- Daniel Kehlmann: "Ruhm"
- Thomas Mann. "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" ("Buddenbrooks" ist wohl zu dick)

Was kam überhaupt nicht an?
- Ist von Schüler zu Schüler verschieden
- Z. B. "Mit Jeans in die Steinzeit", "Die Insel der blauen Delfine" (generell was vor 20 Jahren hip war)
- Bertolt Brecht: "Leben des Galilei" (erfordert als Drama zu große Fantasieleistung)
- Birgit Vanderbeke: "Das Muschelessen"

Persönliche Empfehlung:
- Blake Nelson: "Paranoid Park"
- Daniel Glattauer: "Gut gegen Nordwind"
- Aldous Huxley: "Schöne neue Welt"
- Markus Zusak: "Die Bücherdiebin"
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Alt 01.05.2016, 15:41   #47  
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Standard Lukian von Samosata: Lügengeschichten und Dialoge (Antike)

Diverse Ausgaben, darunter Band 1 der Anderen Bibliothek im Greno Verlag, Nördlingen 1985, hrsg. von Hans Magnus Enzensberger.
Zuletzt Matrix Verlag 2014.
https://de.wikipedia.org/wiki/Lukian_von_Samosata
http://gutenberg.spiegel.de/autor/lu...n-samosata-391 (Volltext-Übersetzngen bei Gutenberg.de)
http://www.zeno.org/Literatur/M/Lukian

Wie versprochen, geht es nun ganz weit zurück in die Vergangenheit - und zwar in das erste Jahrhundert unserer Zeitrechnung.
Der Autor, Lukian von Samosata, lebte von 120 bis 180 oder 200 (darüber streiten sich die Gelehrten) und wurde am Oberlauf des Euphrat geboren, also im Grenzgebiet der heutigen Staaten Türkei, Irak und Syrien. Zu seiner Zeit war Samosata die Hauptstadt des Königreichs Kommagene, Lukian bezeichnete sich selbst als Syrer (nach der römischen Provinz Syria).
Im Laufe seines Lebens bereiste er mehrmals das Mittelmeer, dabei unterrichtete er als Lehrer oder bekleidete Ämter von Gallien bis ins ägyptische Alexandria.

Historiker kennen das Problem: Was über Jahrtausende überliefert wird, hat nicht unbedingt etwas mit Qualität zu tun. Manche Werke aus der Epoche sind lediglich als Zitate in anderen Werken überliefert; Mißverständnisse, Schreibfehler oder bewußte Fehler der Kopisten sorgen für weitere Entstellungen.
Wessen Werke es in Häppchen in den Lehrplan vergangener Zeiten geschafft hatte (Caesar, Cicero & Co.), war deutlich im Vorteil. Auf der anderen Seite finden sich die Autoren der jeweiligen Gegenwart, die für das werben, was ihnen persönlich gefällt und so zur (Wieder-) Entdeckung beitragen.
In diesem konkreten Fall gebührt Christoph Martin Wieland (1733-1813) dieses Verdienst, denn der Aufklärer aus Weimar hat Lukian von Samosata neu übersetzt und bildet heute noch den Fundus der deutschsprachigen Online-Volltexte.

Berechtigte Quellenkritik kippt bei allzu viel Mißtrauen in Paranoia um.
Desinformation gehört zum Standard-Handwerk jedes Geheimdienstes, und Fälschungen sind ein übliches Mittel, um irgendwo Ansprüche anmelden zu können (ich verweise auf das Beispiel der "Konstantinischen Schenkung" des Vatikans).
Was Geschichte betrifft, kursieren diverse Theorien über erfundene und gefälschte Jahrhundert herum.
Die extremste Verschwörungstheorie verwirft alles vor dem 16. Jahrhundert als Lüge und interpretiert die Antike als pure Erfindung vor allem der Renaissance: Nach dieser Lesart haben sich die Königshäuser erhöht, indem sie ihre Regierungszeit in einer antiken Fantasywelt gespiegelt und verdoppelt haben. Diese beiden dynastischen Verzeichnisse sollen danach allerdings nur Allegorien astromonischer Ereignisse sein.

Sowohl Lukian von Samosata als auch Wieland hätten sich köstlich über diese verstiegenen Spekulationen der VT'ler amüsiert. In Post #31 habe ich Das Lob der Torheit empfohlen, und ich kann hier ergänzen, daß der Satiriker Lukian von Samosata sowohl Erasmus von Rotterdam als auch Thomas Morus inspiriert hat.

Der Syrer machte sich über alles lustig, was seinen Zeitgenossen hoch und heilig war. Seine Qualität liegt in der Tatsache begründet, daß seine Kritik heute noch sticht: Er macht sich über Sekten und Mystiker lustig, lobt hinterfotzig den Parasiten und feiert die Lüge. Von ihm stammt eine der frühesten Geschichten über Luft- und Raumfahrt. Seine Hetärengespräche (die Egon Schiele zu Gemälden angeregt haben) entlarven die feine Gesellschaft, die sich diesen antiken Edel-Escort-Service (vom Anspruch glichen die "Damen des Gewerbes" eher Geishas als Callgirls) leisten konnte.

Durch das Format der Buchrolle bleiben seine Werk schlank und übersichtlich, meist schwankt die Länge zwischen 40 und 60 Seiten.

Geändert von Servalan (01.05.2016 um 15:52 Uhr)
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Alt 23.05.2016, 18:10   #48  
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Standard Mary Shelley: The Last Man / Verney, der letzte Mensch (1826)

Diverse Ausgaben, darunter The Hogarth Press 1985, 342 Seiten
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Last_Man
https://de.wikipedia.org/wiki/Verney,_der_letzte_Mensch
http://www.gutenberg.org/ebooks/18247 (Volltext auf Gutenberg)
http://www.gutenberg.org/ebooks/18247 (Englisches Audiobook in Public Domain)
https://www.ualberta.ca/~dmiall/Shel...n_synopsis.htm (Synopsis / Kurzfassung)
https://skullsinthestars.com/2009/04...-the-last-man/

Brian K. Vaughan und Fiona Staples haben mit ihrer DC Vertigo-Reihe Y: The Last Man einen modernen Comicklassiker geschrieben, der weltweit ein riesiges Publikum gefunden und Lob bei der Kritik eingeheimst hat. Wer tiefer in die Materie gestiegen ist, wird dabei früher oder später über einen Roman gestolpert sein, der von der Verfasserin des legendären Frankenstein, or The Modern Prometheus stammt: Mary Shelley.

Aus meiner Sicht war ein Klassiker aus weiblicher Hand in dieser Rubrik mehr als überfällig, aber die sind rar gesät. Obwohl es sie gab, wurden sie kaum gewürdigt, und des öfteren mußte die eine oder andere Welle der Frauenbewegungen bei der Wiederentdeckung nachhelfen.
Anglisten oder Fans der Schauerliteratur ist Mary Shelleys Name geläufig, das gewöhnliche Publikum begnügt sich lieber mit dem Namen ihrer berühmtesten Schöpfung.
Ihr apokalyptischer Roman über eine seltsame Seuche im Jahre 2092 wurde zu Lebzeiten verrissen, obwohl Mary Shelley ihn als ihren Lieblingroman bezeichnete. Erst in den 1960er Jahren wurde das vergessene Werk neu aufgelegt, weitere Ausgaben folgten.

Zu ihrer Zeit gehörte Mary Shelley zur Prominenz und war bestens mit den Ikonen ihrer Epoche verbunden: Ihre Mutter Mary Wollstonecraft hatte seinerzeit durch ein feiministisches Gründungsmanifest Furore gemacht, während ihr Vater der anarchistische Sozialphilosoph William Godwin war. Ihr tragisches Leben wurde durch etliche Tode und Verluste in der Familie geprägt, obwohl sie Teil einer Clique gewesen ist, die sich Freiheiten herausnahmen und Konventionen eher lächerlich fanden.
Der Entstehung ihres Frankenstein-Romans hat Ken Russell in Gothic ein Denkmal gesetzt: Den kalten und stürmischen Sommer 1816 verbrachte der Dichter Percy Bysshe, ihr Ehemann, mit Claire Clairmont, ihrer Cousine, in einer Villa am Genfersee. Zusammen mit Lord Byron und dem Arzt John Polidori wollte die illustre Runde je eine Gespenstergeschichte wie in den Bänden von August Apel und Friedrich August Schulze (unter dem Pseudonym Friedrich Laun).zu Papier bringen ...

In The Last Man geht die Welt in Zeitlupe zugrunde. Trotz der futuristischen Jahreszahlen befinden wir uns einer Pferde- und Postkutschen-Ära. 2073 tritt der englische König zurück, wodurch das Land demokratischer wird. Besonders die ersten beiden Teile lesen sich wie ein Schlüsselroman aus dem frühen 19. Jahrhundert: Shelley, Byron & Co. lassen sich leicht wiedererkennen.
Zu Beginn spielt das Drama in Cumberland und in London auf der isolierten Insel. Zwischen Griechanland und der Türkei bahnt sich ein Befreiungskrieg an, während die Nachricht von einer merkwürdigen Seuche ein besseres Gerücht bleibt. Als die Gefahr erkannt wird, ist es längst zu spät: Tausende werden dahingerafft, aber einige Leute bleiben immum.
Etwas muß geschehen.
In Großbritannien leben bloß noch 2.000 Menschen, als ein Trupp Abenteurer in den Süden aufbricht - erst nach Frankreich, dann in die wilde Schweiz und nach Österreich. Das Ziel der Flüchtlinge liegt in Griechenland ...

Geändert von Servalan (07.02.2017 um 20:08 Uhr)
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Alt 31.05.2016, 18:24   #49  
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Standard Massimo Bontempelli: 522. Racconto di una giornata (1932)

Deutsche Ausgabe: 522. Ein Tag aus dem Leben eines Automobils (S. Fischer 1996), 123 Seiten.
https://de.wikipedia.org/wiki/Massimo_Bontempelli
https://it.wikipedia.org/wiki/Massimo_Bontempelli
http://www.britannica.com/biography/Massimo-Bontempelli
https://de.wikipedia.org/wiki/Magischer_Realismus (Magischer Realismus)
https://de.wikipedia.org/wiki/Futurismus (Futurismus)

Bei meinem eigenen Lektüreplan habe ich auf Abwechslung geachtet, weil ich mich schnell gelangweilt habe und Neues zu entdecken meine Sinne geschärft hat. Aus diesem Grund stelle ich diesmal einen Autoren und ein Werk vor, das im deutschsprachigen Raum wohl weitgehend unbekannt sein dürfte.

Trotz dieses Makels habe ich es ausgewählt, weil es für mich viele Dinge auf den Punkt bringt: Zum einen verknüpft sich in ihm die künstlerische Avantgarde des italienischen Futurismus mit dem Magischen Realismus, der mehrere Jahrzehnte zum Markenzeichen für Literatur aus Lateinamerika geworden ist.
Andererseits knüpft er mit seinem belebten Gegenstand an alte Mythen, Märchen und Sagen an, und diese Tradition setzt sich in der modernen Fantasy und Science Fiction in lebendigen Raumschiffen oder den baumähnlichen Baumhirten der Ents fort.
Außerdem werden solche Ansätze gern in Waldorfschulen oder bei Creative Writing-Kursen genutzt, tote Dinge zum Leben erweckt werden sollen. Allerdings kann das leicht schiefgehen, und dann wird es peinlich ...

Massimo Bontempelli (1878-1960) verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Lehrer und Journalist. 1921 und 1922 verbrachte er einige Monate in Paris, wo er die französische Avantgarde kennenlernte. Er brannte vor Leidenschaft und wollte in Italien etwas Vergleichbares auf die Beine stellen. Dadurch vernetzte er sich mit Künstlern und Literaten, die später bedeutender wurden als er: Alberto Savinio, Giorgio de Chirico, Luigi Pirandelli, Curzio Malaparte.
Der Futurismus wird heute mit spitzen Fingern angefaßt, weil er sich für Krieg und Faschismus begeisterte. Auch Bontempelli gehört zu den begeisterten Anhängern des Duce Bebito Mussolini, der durch seine Verbindungen zunächst an einflußreiche Posten gelangt. Weil er von der orthodoxen Parteilinie abweicht, fällt er in Ungnade und wird 1939 aus der Partei ausgeschlossen. Später wird er nach Venedig verbannt.

Die Futuristen feiern die modernsten Maschinen, begeistern sich für den Rausch der Geschwindigkeit und lieben heiß gewordenen Stahl. Was damals hochmodern war, steht heute als Oldtimer aus der Guten Alten Zeit im Museum. Durch diese Distanz bekommt der futuristische Aufbruch und Ausbruch einen Beigeschmack des Niedlichen, dem auch Bontempelli nicht entrinnt - manches liest sich unfreiwillig komisch.

Heldin des schmalen Romans ist das Fiat-Modell 522, das auf der ersten Seite vom Fließband läuft und so geboren wird. Gekauft wird der naive Wagen (Ähnlichkeiten mit Edmond Calvos Comicheldin Rosalie sind unverkennbar) von dem jungen, sportlichen Bruno, der mit ihr quer durch die Lande brettert. Bei der Höchstgeschwindigkeit von 90 Stundenkilometern schießt 522 über den Asphalt - aber noch gibt es überall Pferde. Und natürlich ist die blecherne 522 eifersüchtig auf Brunos hübsche Beifahrerinnen.
Im 13. und letzten Kapitel landet 522 schließlich im Graben.
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Alt 08.06.2016, 17:15   #50  
Servalan
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Standard Pedro Calderón de la Barca: El gran teatro del mundo (um 1630) / Das große Welttheater (1981)

Diverse Ausgaben, darunter Diogenes Taschenbuch 1981, 81 Seiten (mit Nachwort)
https://de.wikipedia.org/wiki/Das_große_Welttheater
http://gutenberg.spiegel.de/buch/das...theater-5443/1 (Volltext der deutschen Übersetzung von Joseph von Eichendirff, 1846, auf Gutenberg.DE)
http://www.cervantesvirtual.com/obra...-del-mundo--0/ (Volltext in der Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes)
http://www.welttheater.ch/geschichte_calderon.asp
http://universal_lexikon.deacademic....ße_Welttheater

Wer mit den Matrix-Filmen vertraut ist, kennt den Ausspruch, das Leben sei nur ein Traum.
Dieser Gedanke hat allerdings eine lange Geschichte, und im erzkatholischen Spanien des 17. Jahrhunderts brachte Pedro Calderón de la Barca (1600-1680) sein Versdrama Das Leben ist ein Traum / La vida es sueño auf die Bühne.

Zahlreiche strenge religiöse Strömungen verachten Spaß, Vergnügen und die Lust am Leben. Deswegen haben sie Schwierigkeiten, das ganz gewöhnliche Leben von einfachen Menschen abzubilden. Andererseits brauchen sie die Medien, um ihre Sicht der Dinge und der Welt unter die Leute zu bringen und die junge Generation mit ihren Vorstellungen vertraut zu machen.
Monty Python machte die Spanische Inquisition zur Witzfigur, aber im Spanischen Weltreich konnte ein falsches Wort rasch Kerkerhaft und Folter für den (vermeintlichen) Ketzer nach sich ziehen. Entsprechend vorsichtig gingen die Autoren zu Werke, schließlich durfte auch das Königshaus nicht beleidigt werden.

Aus diesem Grund bestimmen die christlichen Feiertage mit ihren Festivitäten den Jahresablauf. Wie in anderen Ländern auch werden besonders Ostern und Fronleichnam mit Prozessionen und Festspielen zelebriert, siehe die Passionsspiele in Oberammergau.
So wußten die hohen Herrschaften einerseits, was sie erwartet, andererseits wurde kein realer Mensch durch seine Hauptrolle im Stück erhöht - vielmehr wurde ein Exemplum statuiert, ein allegorisches Beispiel, das als Richtschnur diente.

Wie seine René Descartes oder Miguel de Cervantes kann der adlige Calderón auf ein bewegtes Leben zurückblicken: Der Jesuitenschüler wollte zunächst Priester werden, verdingte sich jedoch wenig später als Landsknecht. Der Hofkaplan König Philipps IV. leitete und wurde Nachfolger des berühmten Lope de Vega als Hofdramatiker und Leiter des königlichen Theaters.
Er galt als bester Dramatiker seiner Zeit, und heute noch werden seine Werke zum Beispiel bei den Ruhrfestspielen oder von der Welttheater-Gesellschaft Einsiedeln aufgeführt.
Nach heutigen Maßstäben war er ein Vielschreiber: ca. 120 Dramen (sog. Comedias), 80 Fronleichnamsspiele (Autos sacramentales) und etliche Kurzszenenfolgen (Zarzuelas) sind erhalten geblieben.

Das große Welttheater zählt zu den Fronleichnamsspielen.
Ähnlich wie Fabeln personifizieren Allegorien abstrakte Eigenschaften, Gefühle oder Prinzipien und spitzen sie dramaturgisch zu. Hier steht der Mensch an sich im wahrsten Sinne des Wortes nackt auf der Bühne, und mit ihm ist jeder Mensch gemeint, egal, ob jung oder alt, arm oder reich, gesund oder moribund.
Der Schöpfer oder der Meister erweckt die Menschen wie Puppen tanzen, dadurch erlaubt er einen Blick hinter die Kulissen. Er weist den aufgerufenen Schauspielern ihre Rolle zu.
Während die Menschen in der Matrix Programmen begegnen, bedient sich der Schöpfer hier seiner Helfer Macht, Demut, Schönheit, Überfluß, Mühsal und Elend, um den Menschen den ihnen zugedachten Platz in der Gesellschaft zuzuweisen.

Die deutsche Klassik und die Romantik entdeckten das konservative Stück für ihre Zeit neu.
Wer mal wissen will, was es abseits von René Pollesch oder Rimini Protokoll, jenseits von Thomas Bernhard oder Sarah Kane sonst noch an Möglichkeiten auf dem Theater gibt, sollte mal reinschnuppern.
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