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Alt 09.11.2015, 15:02   #1  
Servalan
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gold01 Jenseits von Reclam: Klassiker entstaubt

Pflichtlektüren haben Nebenwirkungen. In der Schule darf sich niemand dem Stoff entziehen, schließlich ist der prüfungsrelevant. Die billigen Ausgaben für den Unterricht sind Arbeitsmaterialien, die nach Vorgabe von oben Kapitel um Kapitel durchexerziert werden und schließlich entsprechend abgenutzt aussehen - siehe auch die Klassiker-Comicadaptionen von Flix.
Lust bringt das nur den Wenigsten.

Einige lassen sich davon jedoch keineswegs abschrecken. Andere entdecken die günstigen Ausgaben später für sich wieder, stolpern zufällig über Second-Hand-Bücher, leihen sich die aus oder finden zufällig ein Exemplar am Straßenrand ("Umzug: zu verschenken!").
Geschmäcker sind verschieden.
Was dem einen gefällt, über das rümpft der nächste die Nase.
Dennoch bin ich mir sicher, daß die meisten den einen oder anderen Klassiker zu ihren Lieblingsbüchern zählen. Mich interessiert dabei, warum ihr diese Werke liebt, wie ihr zu ihnen gefunden habt. Manchmal sind die der Grund, sich später eine bessere, eine stabilere Ausgabe zu besorgen, möglicherweise mit Hintergrundmaterial oder Sammlerexemplare.

Infrage kommen dabei entweder die internationalen Klassiker aus den einschlägigen Buchreihen (Reclam, Penguin Popular Classics / Penguin Modern Classics, Wordsworth, J'ai lu oder folio). Außerdem sollten die Titel in der Schule, an der Universität oder anderswo regulär auf dem Lehrplan stehen.
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Alt 09.11.2015, 15:34   #2  
Servalan
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Standard Henry James: The Aspern Papers (1888)

Penguin Popular Classics [PPC], 137 Seiten
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Aspern_Papers
http://www.gutenberg.org/files/211/211-h/211-h.htm

Manche Dinge ändern sich nie: Dichterwitwen und Gerüchte über angeblich versteckte Mauskripte von berühmten Werken gab es schon vor Stieg Larsson.

In der Erzählung fährt der Ich-Erzähler, ein Literaturwissenschaftler nach Venedig, weil er bei Miss Bordereau und deren Nichte ein Manuskript vermutet, das ihm zu einer Karriere an der Universität verhelfen könnte. Miss Bordereau war einmal die Geliebte des amerikanischen Dichters Jeffrey Aspern, dessen Liebesgedichte von Publikum und Kritik gefeiert wurden. Durch Tricks, Listen und Finten schleimt sich der Ich-Erzähler ein, um im Palazzo heimlich den Nachlaß zu durchforsten. Natürlich bekommen das die "Dichterwitwe" und ihre Nichte mit ...

An meiner Uni halten die Buchhandlungen einige Regale für fremdsprachige Bücher frei: eine Mischung aus Klassikern und den Pflichtlektüren für die Seminare des Semesters. Ähnlich wie LTBs können PPCs nicht gezielt bestellt werden, denn die Buchhandlungen müssen immer eine bestimmte Mindestmenge abnehmen, meist Sendungen mit 12-20 Exemplaren.
Deshalb habe ich regelmäßig dort gestöbert. Auf diese Weise habe ich mir nach und nach eine kleine Sammlung von englischsprachigen Klassikern im Original angelegt.

Henry James ist ein spezieller Fall aus meiner Sicht. Wenn er gut ist, mag ich ihn; und meiner Ansicht nach gelingt ihm das bei seinen kürzeren Werken am besten. James wurde in den USA geboren, zog aber später nach Groißbritannien, wo er sich unter anderem mit Joseph Conrad anfreundete. Seine berühmteste Geschichte ist The Turn of the Screw (1898, das unter mehreren deutschen Titeln erschien: Das Durchdrehen der Schraube, Die Unschuldsengel, Das Geheimnis von Bly oder Die Drehung der Schraube.)
The Aspern Papers ist in etwa so umfangreich wie The Turn of the Screw. James nannte das Format 'tale', heute wäre der Zusatz wohl 'Kurzroman', obwohl das altbackene 'Novelle' ebenfalls zutrifft. Das Manuskript von Aspern liefert einen MacGuffin für ein Katz-und-Maus-Spiel, das mich gefesselt hat.

Kein Wort zuviel. Ein Thriller ohne Leiche.

Geändert von Servalan (27.01.2017 um 14:11 Uhr)
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Alt 09.11.2015, 15:35   #3  
Peter L. Opmann
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Manchmal kommt mir das wie eine Schutzbehauptung vor: "Die Schule hat mir die Lust auf Klassiker verdorben."

Was eine Rolle spielen kann, ist, daß die Themen in der Schule völlig falsch vermittelt werden - ideenlos, unsensibel, nur mit Druck ("das habt ihr auswendig zu lernen").

War bei mir glücklicherweise nicht so. Die meisten meiner Deutschlehrer mochte ich. Die Schule hat mir Zugang zu vielen Klassikern verschafft.

An erster Stelle nenne ich "Effi Briest" von Theodor Fontane. Dieser Roman hat mich tief angerührt - bis heute.

Wohl kein Theaterstück habe ich so eingehend auseinandergenommen und mir seine Mechanismen, Wirkungsweisen und seine Sprache so genau angesehen wie Goethes "Faust". Leider haben wir damals aus Zeitmangel "Faust II" nur noch in groben Zügen behandelt.

An viele Kurzgeschichten, die wir behandelt haben, erinnere ich mich noch heute sehr genau. "Der Brötchenclou" von Wolfdietrich Schnurre, "Ein Wohltätigkeitsbesuch" von Eudora Welty, "Vor dem Gesetz" von Franz Kafka, die Keuner-Geschichten von Bertolt Brecht.

Gedichte mochte ich nicht besonders. Aber die Ballade "Die Bürgschaft" von Schiller hat mich doch beeindruckt.

Lateinunterricht war natürlich nicht so lustig wie Deutsch. Aber die Lektüre von "De Bello Gallico" von Julius Caesar hat mir doch auch einiges gebracht.

Und auch wenn das hier nicht hergehört: Wir haben im Deutschunterricht auch Comics behandelt. Auf die gleiche Weise: Wie wird da erzählt? Wie funktionieren Comics? Ob man Comics mochte oder nicht, blieb den Schülern selbst überlassen.
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Alt 11.11.2015, 13:21   #4  
Servalan
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Standard Aus dem Nähkästchen geplaudert

Ich glaube, es kommt auf beides an: Eine gute Lehrerin oder einen Lehrer, also jemanden, die oder der seine Begeisterung vermitteln kann - und auf der anderen Seite einen guten Text, der einen eigenen Reiz hat. Jenseits der Botschaft, die wir dechiffrieren mußten ("Was will uns der Dichter damit sagen?").

Gewisse Werke haben eine Qualität, die niemand unter den Teppich kehren kann: Goethes "Erlkönig" hat auch heute noch Gänsehautqualität. Die kurzen Sachen von Brecht hatten schon was, und Kafka halte ich für unkaputtbar.
Allerdings gibt es gewisse Modeströmungen, und in meiner Schulzeit in den 70er und 80er Jahren war das die "engagierte Literatur": Böll, Wallraff und Konsorten. Die meisten Werke haben mich nicht überzeugt, aber ich konnte liefern, was von mir erwartet wurde.

Wenn die Sache so simpel wäre, müßte ich Fernsehserien hassen. Zu meiner Schulzeit flimmerte "Holocaust" über die Mattscheibe. Die Geschichtsleher der 9. oder 10. Klasse meinten, wir Schüler müßten das gesehen haben. Deshalb wurde ein "Medienraum" oder "Fernsehzimmer" improvisiert, durch das die Klassen reihum durchgeschleust wurden.
Der Haken an der Sache: Bei 45 Minuten pro Schulstunde reichte die Zeit nicht für eine Folge. Abgesehen davon, daß die Lehrkräfte meiner Erfahrung nach gewisse Probleme mit technischen Geräten hatten, wurden die VHS-Kassetten so lange mittendrin vorgespult, bis die Folgen in den Stundenplan paßten. Als wir das Berieseln über uns ergehen lassen mußte, fühlte ich mich an die "Haßpropraganda" aus Orwells 1984 erinnert.

Mich würde mal interessieren, was zur Zeit in der Schule abgeht. Dort stehen ja moderne Klassiker wie Patrick Süskinds Das Parfüm, Bernhard Schlinks Der Vorleser oder Umberto Ecos Der Name der Rose auf dem Lehrplan. Manchmal sogar Art Spiegelmans Maus oder Heuvels Anne-Frank-Comic.
Kommt das an? Oder quälen sich die Pennäler da durch?

Geändert von Servalan (11.11.2015 um 13:29 Uhr)
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Alt 11.11.2015, 15:19   #5  
Peter L. Opmann
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Mir fällt es leichter zu sagen, was in der Schule prägend war, als was nicht prägend war ("Modeströmungen"). Generell denke ich, daß wir uns wenig mit Zeitgenössischem beschäftigt haben, also sowas wie "Die Wolke" von Gudrun Pausewang, obwohl die auch noch aus unserer Region stammt.

Aber an vieles kann ich mich auch nicht mehr erinnern. Wir haben glaube ich auch was von Heinrich Böll gelesen, aber ob das "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" war oder ob ich das durch den Schlöndorff-Film mitbekommen habe, weiß ich nicht mehr... Vieles, was nichts taugt, schätze ich, habe ich wieder vergessen.
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Alt 11.11.2015, 19:53   #6  
Servalan
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Standard Alexandre Dumas (père): Le Comte de Monte-Cristo (1844-1846)

Le Livre de Poche: Les Classiques de Poche, 798 Seiten (Band 1) + 797 Seiten (Band 2)
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Gr..._Monte_Christo

Jugendbücher werden häufig in der einen oder anderen Weise bearbeitet. Wenn sie in Reihen erscheinen, werden die einzelnen Bände auf eine bestimmte Weise getrimmt, meist gerafft und gestrafft. Natürlich kannte ich schon in jungen Jahren das Grundgerüst der Story, aber bei einem anderthalbstündigen Spielfilm oder einer 180-250 Seiten langen Fassung bleibt bloß ein Skelett von diesem Abenteuerroman übrig.

Mittlerweile ein fester Bestandteil der französischen Literaturgeschichte, gibt es auch von diesem Klassiker preiswerte Studienausgaben für Romanisten und andere Interessierte.
Dabei war der Roman eine Auftragsproduktion, mit der Dumas den damaligen Blockbuster von Eugène Sue Les Mystères de Paris (1843) in die Schranken weisen wollte. Statt einer Stadt überbot er seinen Konkurrenten mit drei Städten (Marseille, Rom und Paris), wo sich ein weit verzweigtes Geflecht von Komplotten, Intrigen und Karrieren entfaltet. Bei den meisten Bearbeitungen reduziert sich das Geschehen auf die Rache des unschuldig verurteilten Edmond Dantès, die lediglich im Hintergrund das Gesellschaftspanorama zusammenhält.

Länge ist relativ: Eine langweilige Kurzgeschichte erscheint mir länger als ein fabelhaft inszenierter Roman.
Wer mit dem Abenteuer des Grafen von Monte Christo zufrieden ist, hat das meiste überflogen.

Einerseits gewährt Dumas einen Einblick in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und spannt seinen Bogen dann bis in damalige Gegenwart: Der verbannte Napoleon, der sein Comeback plant (das bei Waterloo grandios scheitern wird), wird auf diese Art ebenso zum Element wie der technische Fortschritt (vom Segelschiff zum Dampfboot, in der Telegrafie) oder der Rom-Tourismus der gebildeten Oberschicht.
Als das Segelschiff Pharaon das zweite Mal in Marseille einläuft, ist der Windjammer ein Oldtimer, der für eine Reederei wirtschaftlich unrentabel wäre. Das Spiel mit Pünktlichkeit und Präzision oder den fünf Alter Egos der Grafen geht in Richtung von Verkleidungstalenten wie Sherlock Holmes oder Dr. Mabuse.
Literarisch besonders modern empfand ich den fast schon psychedelischen Mittelteil in Rom, wo Touristen zum Spaß gefoppt werden, falsche und echte Räuber sich ein Stelldichein geben.

Mit welcher feinsinnigen Ironie Dumas sein Garn gesponnen hat, wird in einer der Schlußszenen deutlich, in denen der Graf von Monte Christo das Château d’If besucht. Wie im Ric Hochet / Rick Master-Album dient das stillgelegte Inselgefängnis als touristische Attraktion. Dantès erkennt einen seiner ehemaligen Wärter, den er nach Anekdoten fragt, und dieser erzählt Dantès seine eigene Geschichte, ohne daß der den ehemaligen Häftling erkennt.

Mehr als ein Jugendbuch, eines der besten Bücher von Dumas. Für Jüngere eine spannende Geschichte, Erwachsene werden die Zwischentöne genießen.

Geändert von Servalan (11.11.2015 um 20:07 Uhr)
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Alt 11.11.2015, 20:36   #7  
Peter L. Opmann
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Das scheint mir jetzt eher in die Reihe "Klassiker, die in der Schule unter den Tisch fielen" zu gehören.

Mir ist die angelsächsische Literatur näher. Als ich Schüler war, gab es eine Gesamtausgabe der Werke von Edgar Allen Poe für 99 Euro (wenn ich mich recht erinnere). Mein Onkel, der ursprünglich Deutschlehrer werden wollte, was dann durch die Nachkriegszeit nicht möglich war, hat damals die Nase gerümpft und gesagt: "Das liest du doch nie."

Er hatte recht. Durch den Wust an Essays, Rezensionen und seine Korrespondenz habe ich mich nicht durchgekämpft. Aber es gibt viele Texte von Poe, die absolute Klassiker sind. Ich glaube, Charles Baudelaire war der erste, der die Bedeutung von Poe erkannt hat.
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Alt 12.11.2015, 13:59   #8  
Servalan
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Seit den 1970er Jahren hat sich einiges getan. Wenn es um Reader's Digest-Fassungen von Dumas' Klassiker geht, gebe ich dir recht. Aber von denen, die sich als Kinder oder Jugendliche die Abenteuer von Edmond Dantès reingezogen haben, werden die wenigsten die 1.500-Seiten-Fassung kennen. Eigentlich wäre das genug Stoff für eine Premium-Serie in drei Staffeln. Der ungekürzte Roman ist eher etwas für Erwachsene.

Zum Abitur konnte ich mir Prüfungsthemen wählen, und auf der Universität läuft das ähnlich. Wer Matura machen oder Romanist werden will, der wird bestimmt auf die Les Classiques de Poche-Ausgabe verwiesen.

Vielleicht meldet sich mal jemand, der heute seinen Schulabschluß mit Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt oder den Zamonien-Romanen von Walter Moers baut. Ich wollte den Ansatz nicht zu verkniffen sehen.
Außerdem sollten Klassiker aus sämtlichen Sprachen zum Zug kommen: Wer Sinologie studiert, könnte zum Beispiel Der Traum der roten Kammer oder das Djin Ping Meh. Schlehenblüten in goldener Vase einbringen. Viele Manga- und Animefans begeistern sich für die japanische Kultur, die einiges zu bieten hat ...
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Alt 12.11.2015, 14:40   #9  
Peter L. Opmann
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Ich habe nichts gegen "populäre" Klassiker. Und es gibt glaube ich wirklich eine Tendenz, hinter den Kinderbuchbearbeitungen das komplette Werk zu entdecken.

Etwa bei "Gullivers Reisen", "Moby Dick", "Die Schatzinsel" oder "Robinson Crusoe". (Leider kann ich auf Anhieb keinen romanischen Klassiker nennen, der zum Jugendbuch verwurstet wurde...)
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Alt 12.11.2015, 18:59   #10  
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Standard Dino Buzzati: Il Deserto Dei Tartari (1940)

Deutsche Ausgabe: Die Tatarenwüste. Roman, aus dem Italienischen von Stefan Oswald, Klett-Cotta (Greif-Bücher) 1993, 238 Seiten
Italienische Studienausgabe in der Reihe Oscar classici moderni im Verlag Mondadori, 202 Seiten
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Tatarenwüste
https://it.wikipedia.org/wiki/Il_des...rtari_(romanzo)

Weil das regulärer Schulstoff ist, finden sich online weitere Materialien:
http://www.skuola.net/libri/riassunt...o-buzzati.html
http://www.atuttascuola.it/relazioni...ei_tartari.htm
http://doc.studenti.it/scheda-libro/...o-buzzati.html

Buzzatis anspruchsvoller Fantasyroman kann gewissermaßen als Gegenstück zu J.R.R. Tolkiens Herrn der Ringe gelesen werden. Zumal beide Werke zur gleichen Zeit entstanden sind. Außerdem hat der Stoff ziemliche Ähnlichkeiten mit den Grenzstellen aus George R.R. Martins Game of Thrones.

Giovanni Drogo ist ein junger Leutnant in einem ungenannten Land, dessen Grenze gegen einen befürchteten Ansturm der Tataren verteidigt werden muß. Deshalb muß sich Drogo von seiner Geliebten verabschieden und die Hauptstadt verlassen. Stationiert wird er in einem abgelegenen Fort am Rande einer Steinwüste, wo er sich bewähren muß.
In dem Fort schmoren die heißblütigen Möchtegernhelden im eigenen Saft und suchen krampfhaft nach Ablenkung. Regelmäßig ziehen Patrouillen durch das Gelände - doch die Tataren kommen nicht. Die jungen Soldaten gehen sich auf die Nerven, und bei einer Schlacht könnten die Hitzköpfe Dampf ablassen. Mal gibt es falschen Alarm, mal gehen sich die Isolierten gegenseitig an die Kehle. Die Luft flimmert vor Anspannung.
Jahre vergehen. Drogo wird älter und älter, bis er vergreist. Irgendwann soll der alte Drogo in die Hauptstadt verlegt werden. Er liegt schon auf der Bahre, just in dem Moment greifen die Tataren an ...

In seiner lakonischen Sicht auf einen Traum, der erst in Erfüllung geht, als es längst zu spät ist, ist mir dieser Roman im Gedächtnis geblieben. Je länger ich ihn gelesen habe, desto mehr glich er Werken von Franz Kafka oder Joseph Conrad. Wenn sich Drogo an seine Kindheit erinnert, bekommt der Roman etwas Märchenhaftes, von dem sich die trostlose Routine im Fort kontrastreich abhebt. Ein Roman für Leute "von 7 bis 77 Jahren".

Geändert von Servalan (12.11.2015 um 19:22 Uhr)
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Alt 12.11.2015, 20:34   #11  
Peter L. Opmann
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Sorry, wenn ich mich dauernd zu Wort melde - aber können Genreromane zu Klassikern werden?

Ich komme darauf, wenn ich lese: "wie Herr der Ringe" oder "wie Game of Thrones". Ist ja klar, die Genreregeln gelten immer. Western bestehen immer aus derselben Handvoll Handlungsmuster; Krimis haben nur drei oder vier Plot-Varianten (jedenfalls wenn es Hard-boiled-Romane sind). Und dann kommt irgendwann die Zertrümmerung der Genreregeln, wie im Comic etwa mit "The Return of the Dark Knight", und dann kann erst recht nichts Neues mehr kommen. Muß man bei einem großen Werk nicht Originalität fordern?

Nicht falsch verstehen - ich mag Literatur- und Filmgenres, auch Comicgenres. Es kann befriedigend sein zu verfolgen, wie die Genregrenzen doch immer wieder mal ein bißchen umdefiniert werden. Aber sind wir da im Bereich von Klassikern?

Nebenbei: Ein toller Western, weitab der üblichen Genreregeln, ist "Pasó por Aquí" von Eugene M. Rhodes. In diesem Buch fällt kein einziger Schuß. Wurde von Hollywood zu verfilmen versucht - erfolglos.
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Alt 12.11.2015, 20:47   #12  
Servalan
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Können sie schon: Wenn das allgemein Menschliche so stark ist, daß die Genreregeln bloß noch Pipifax sind. Das passiert häufiger, wenn neue Genres entstehen oder wenn sie aus dem letzten Loch pfeifen und totgesagt werden.

Aktuell fallen mir Fernsehserien wie The Wire oder The Fall - Tod in Belfast ein, die ja zunächst als handelsübliche Krimiplots beginnen. Aber je weiter sich der Stoff ausbreitet, desto mehr verblassen die Klischees und etwas anderes wird deutlich. Die Genre-Form wird hier als Lockstoff benutzt, um ein Publikum zu erreichen, das sich sonst womöglich gar nicht mit solchen Themen befaßt hätte.

Klassiker sind selten, aber es gibt sie.

Ich sehe Klassiker wie Mythen: Wer will, kann sie lesen, obwohl der Plot bekannt ist. Das Werk besitzt weitere Qualitäten, die jeder erst langsam für sich entdecken muß.

Geändert von Servalan (13.11.2015 um 01:42 Uhr)
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Alt 12.11.2015, 22:10   #13  
Peter L. Opmann
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Wikipedia gibt Dir Recht:

Zitat:
Während Klassiker der Hochliteratur stilistische Merkmale erfüllen müssen, z. B. die durchgängige Einhaltung des inneren Monologs in Arthur Schnitzlers Novelle Leutnant Gustl, die letztendlich ihren Status rechtfertigen, genügen in der Genreliteratur die Bekanntheit und vor allem der Formelcharakter des Werks.
Aber dann wäre doch eher "Herr der Ringe" der Klassiker.

Also, Fantasy mag ich nicht besonders - abgesehen vielleicht von ein paar herausragenden "Conan"-Storys.
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Alt 13.11.2015, 17:43   #14  
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Standard Joseph Conrad: Heart of Darkness (1899 / 1902)

Penguin Popular Classics [PPC], 111 Seiten
Deutsche Ausgabe bei Reclam (RUB)
https://de.wikipedia.org/wiki/Herz_der_Finsternis
https://en.wikipedia.org/wiki/Heart_of_Darkness

Wer tiefer in die Materie einsteigen möchte, dem empfehle ich als Ergänzung:
  • Radiofassung von Orson Welles: The Mercury Theatre on the Air: Heart of Darkness (CBS Radio 1939)
  • Der Roman inspirierte John Milius und Francis Ford Coppola zum Kinoklassiker Apocalypse Now (USA 1973) bzw. Apocalypse Now Redux (USA 1973 + 2001)
  • sowie zu guter letzt das Making of Hearts of Darkness: A Filmmaker's Apocalypse (USA 1991), Regie: Fax Bahr, George Hickenlooper, Eleanor Coppola
Zu Lebzeiten galt Joseph Conrad als gehobene Unterhaltung, der sich auf die Genres Seefahrt, Kolonialismus und Spionage spezialisiert hatte. Für den polnischen Seemann war Englisch seine dritte oder vierte Fremdsprache.
Heart of Darkness gehört zu den einflußreichsten Romanen des 20. Jahrhundert und erschien zuerst als Serial in drei Teilen 1899 im Blackwood's Magazine. Auf einen Spaziergang hatte er dem Herausgeber der Zeitschrift von seinen Abenteuer in Belgisch-Kongo berichtet, womit er den Verleger begeisterte. Die gedruckte Geschichte wich jedoch erheblich von Conrads mündlichen Seemannsgarn ab, dem Verleger gefiel das gar nicht.

Obwohl sich der Stoff auf eine Schlagzeile zusammenfassen läßt: Captain Marlow sucht für eine belgische Reederei den mysteriösen Mr Kurtz in Belgisch-Kongo und begegnet dabei seinen Dämonen - biedert sich der kurze Roman nicht an.

Komplex verschaltet beginnt das Abenteuer in einer Herrenrunde auf einer Yacht in der Themsemündung. Während der Abend dämmert, entspinnt sich aus einer Bemerkung Marlows eine Geschichte. Marlow verglich dabei das alte Londinium mit dem tiefsten Dschungel Afrikas am Kongofluß: Obwohl 2.000 Jahre dazwischen liegen, müssen beide Gegenden wie das Ende der zivilisierten Welt auf die Zeitgenossen gewirkt haben. Die anderen Herren auf Deck haken nach, weil sie es genauer wissen wollen.

Die ersten zehn bis zwanzig Seiten können schon eine Hürde darstellen, das teilweise mehrfach Dialoge ineinander geschoben werden. Spätestens Marlows Bewerbung im Brüsseler Büro der Kolonialfirma samt ärztlicher Untersuchung zeigt, daß es um mehr als platten Realismus geht: Die drei seltsamen Frauen könnten auch Schicksalgöttinnen sein. Wer davor nicht zurückschreckt, den erwartet ein leiser Sog, der das Grauen ("The horror! The horror!") verstärkt.

Eines meiner Lieblingsbücher.
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Alt 14.11.2015, 17:51   #15  
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Standard The Complete Short Stories of Ambrose Bierce (1873-1909)

University of Nebraska Press, herausgegeben von Ernest Jerome Hopkins, Vowort von Cathy N. Davidson, 496 Seiten
https://en.wikipedia.org/wiki/Ambrose_Bierce
https://de.wikipedia.org/wiki/Ambrose_Bierce

Dort heißt es:
Zitat:
Zu Lebzeiten blieb er als Schriftsteller allerdings weitgehend unbeachtet. Das änderte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute sind vor allem seine mustergültigen Kurzgeschichten gängige Schulbuchlektüre. Neben der literarischen Verarbeitung historischer Stoffe ist er vor allem durch seine aphoristischen Begriffsdefinitionen in The Devil's Dictionary bekannt geworden, die zwischen 1881 und 1906 entstanden und durch humorvoll-sarkastischen Wirklichkeitssinn geprägt sind, vergleichbar mit Lichtenbergs Sudelbüchern oder dem Sarkasmus eines Oscar Wilde.

Gemeinsam mit Edgar Allan Poe und H. P. Lovecraft gilt Bierce als Erfinder der modernen Horrorliteratur. Schreibstil, Weltsicht, Themenwahl und Herangehensweise des Autors sind stark vom amerikanischen Bürgerkrieg beeinflusst.
Gerade als Gesamtausgabe versammelt das Buch auch schwächere Geschichten von Bierce. Das Werk gliedert sich in drei Teile (Horror, Krieg und "Tall Tales" - quasi die Vorläufer der Urban Legends). Zu seinen besten Werken gehören "An Inhabitant of Carcosa", "Chickamauga", "The Damned Thing" und sein Meisterwerk "An Occurrence at Owl Creek Bridge". Viele seiner Kurzgeschichten sind als Comics adaptiert worden.

Den stärksten Eindruck vermitteln seine Geschichten aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg, an dem der spätere Journalist als Offizier teilgenommen hat (auf Seiten der Nordstaaten). Sein nicht-realistischer Ansatz vermittelt das Grauen des modernen technisierten Krieges eindringlich. Davidson hält diesen Teil seines Werks für ein besseres Antikriegsbuch als das seines Zeitgenossen Stephen Crane (1871-1900) Red Badge of Courage (1895).

1914 verschwand Bierce wie eine seiner Figuren spurlos in Mexiko.
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Alt 15.11.2015, 18:45   #16  
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Standard Nikolai W. Gogol: Meisternovellen + Phantastische Novellen (1831 - 1842)

Könemann (zwei Bände im Schuber), 146 Seiten + 608 Seiten
https://de.wikipedia.org/wiki/Nikola...jewitsch_Gogol

Nikolai Wassiljewitsch Gogol (Никола́й Васи́льевич Го́голь, 1809-1852) wurde auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geboren und gilt als einer der Gründervater der russischen Literatur. Er stammt aus einer Gutsbesitzerfamilie, deren Vorfahren Kosaken waren, und Gogol verherrlicht diese grobschlächtigen Rabauken. Im Könemann-Schuber wird das nationalistische Pathos im Schicksal von "Taraß Bulba" (in Phantastische Novellen) deutlich, der seinen jüngsten Sohn lieber selbst umbringt, als zuzulassen, daß er eine Polin heiratet.

Schilderungen des Landlebens an reißenden Strömen, die ins Schwarze Meer münden, nehmen breiten Raum ein. Am besten wird Gogol, wenn Bürokratie auf menschliche Eitelkeit oder andere Schwächen trifft und der Lauf der Dinge aberwitzige Kapriolen zustandebringen.
Während das Gesamtwerk wahrscheinlich nur Slawisten anspricht, finden sich auf gut 750 Seiten auch jene Geschichten, die ihm den Ruhm der Weltliteratur eingebracht haben:
  • "Die Nase" (1835)
  • "Der Wij" (1835)
  • "Der Mantel" (1842)
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Alt 17.11.2015, 15:26   #17  
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Standard François Rabelais: Gargantua und Pantagruel (1532 - 1564)

Winkler Weltliteratur Dünndruck Ausgabe, mit Illustrationen von Gustave Doré, 1517 Seiten in zwei Bänden
Diverse französische Ausgaben in verschiedenen Fassungen, unter anderem in der Bibliothèque de la Pléiade (Gallimard) und Textes littéraires français (Droz)
https://de.wikipedia.org/wiki/Gargantua_und_Pantagruel
https://fr.wikipedia.org/wiki/François_Rabelais

Während die französische Wikipédia Rabelais' Werk ausführlich betrachtet, rafft die deutschsprachige Online-Enzyklopädie seinen Status prägnant zusammen:
Zitat:
Heute gilt Rabelais, obwohl er aufgrund seiner archaisch gewordenen Sprache und seiner oft kaum mehr verständlichen Wortspiele und Anspielungen wenig gelesen wird, als der größte französische Autor des 16. Jahrhunderts, als einer der Großen der französischen Literatur überhaupt und speziell als Galionsfigur des moralisch häufig unkorrekten, dafür aber volkstümlich-heiteren „esprit gaulois“ oder eben „rabelaisien“.
Durch modernisierte Übersetzungen haben Fremdsprachler gegenüber Muttersprachlern einen gewissen Vorteil, sobald die Sprache zu sehr veraltet. Die Originalfassung im mittelalterlichen richtet sich heute vorwiegend an Sprach- und Literaturwissenschaftler, Mediävisten und eingefleischte Liebhaber klassischer Texte. Bei übersetzten Fassungen lassen sich moderne Verständnishilfen flüssiger und subtiler in den Text einarbeiten.

Die insgesamt fünf Bücher über ein imposantes Riesengeschlecht sind Teil der französischen Kultur geworden, und der unersättliche Gargantua dürfte zu den Urahnen des Hinkelsteinlieferanten Obelix gehören: Beide vereint ein schier unersättlicher Appetit und die Lust am Feiern.

Ähnlich wie Luther mit seiner deutschen Bibelübersetzung, hat der frühe Humanistund Ordensbruder Rabelais (1494 - 1553) erst Franziskaner, später Benediktiner) den Leuten aufs Maul geschaut. Die fünf Bände vermitteln ein ziemlich rauhes Bild der frühen Neuzeit aus ihrem Inneren heraus, kein geschönt-bekömmliches Image wie bei einem Mittelaltermarkt oder einem historischen Roman. Zunächst sollte es nur ein Buch geben, aber durch den Erfolg kamen weitere Fortsetzungen zustande, das letzte Buch erschien nach Rabelais' Tod.

Insofern handelt es sich um eine Art Serie im weitesten Sinne, in der Rabelais mittelalterliche Genres vom Fürstenspiegel bis zum Erziehungsratgeber parodiert. Besonders leibliche Genüsse und körperliche Vorgänge werden eindrucksvoll in Szene gesetzt - vom Essen und Trinken bis zum Scheißen und Pissen. Der Klassiker wurde unter anderem von Gustave Doré und Honoré Daumier illustriert.

Wer die fremdartige Welt unserer Vorfahren entdecken möchte, dem empfehle ich die ersten beiden Bücher. Schon das Blättern in den illustrierten Fassungen ist ein Genuß.

Geändert von Servalan (17.11.2015 um 16:46 Uhr)
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Alt 17.11.2015, 16:20   #18  
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Die Sitten waren damals anders. Körpervorgänge, die wir heute bestenfalls lustig finden (weil sie eigentlich mit einem Tabu belegt sind), waren ganz normal; jeder redete offen darüber.

Wenn man sagt, daß Luther dem Volk "aufs Maul geschaut hat", ist das nach meinem Verständnis eine Verkürzung. Seine Leistung lag darin, daß er überhaupt Bücher auf Deutsch publiziert hat. Fast alle Literatur war bis dahin lateinisch - und es war durchaus so gedacht, daß nur Gebildete Zugang zu Literatur haben sollten. Es gab keine Schulpflicht. Luther sagte: Jeder muß das lesen (können), und daraus entstand dann das Bestreben, auch ein gut verständliches Deutsch zu entwickeln. Hätte er nur das Latein 1 : 1 übertragen, wäre nicht viel gewonnen gewesen.

Rabelais habe ich bisher nur ganz am Rande wahrgenommen. Hat er denn irgendwelche Vorzüge, die man in den Tischreden Luthers nicht hat?
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Alt 17.11.2015, 16:42   #19  
Servalan
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Die Ähnlichkeiten mit Astérix sind frappierend: Das erste (der fünf) Bücher erzählt die Kindheit Gargantuas, das zweite zeigt ihn auf Tour, weil er Ratschläge einholt, wie er am besten heiratet.
Rabelais gelingt es, erzählerische Bögen zu spannen.

Rabelais genießt die Sprache und spielt mir ihr. Die erste Übersetzung von Johann Fischart: Abenteuerliche und ungeheuerliche Geschichtsschrift vom Leben, Raten und Taten der Herren Grandgusier, Gargantua und Pantagruel. (1575) wurde vor einigen Jahren als Band der Anderen Bibliothek nachgedruckt, weil sie von Neologismen, absurden Einfällen und grotesken Szenen nur so wimmelt. Indirekt stellt Rabelais einen Vorläufer von Grimmelshausens Simplicissimus dar, wobei Krieg nur am Rande vorkommt.

Mit dem Riesengeschlecht verhonepipelt er die höheren Stände, die im Grunde auch nur menschliche Bedürfnisse haben. Anders als der "Idealist" Luther mit seinen hehren Ansprüchen bereitet Rabelais hier Autoren wie Michel de Montaigne oder François Villon den Boden. Rabelais wird zu einem sprachgewaltigen Gegenstück zu Breughel oder Hieronymus Bosch.

Geändert von Servalan (07.02.2017 um 19:46 Uhr)
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Alt 18.11.2015, 17:44   #20  
Peter L. Opmann
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Wenn ich mal etwas einwerfen darf: Ist Philip K. Dick ein Klassiker?

Mit etwa 15 habe ich alles mögliche gelesen, auch viel Science Fiction, weil das damals ziemlich angesagt war. Was heute in den Buchläden die riesigen Fantasy-Bücherwände sind, das war damals "Heyne SF und Fantasy". Später kam Moewig SF hinzu, und dann habe ich noch die violette Suhrkamp-Reihe entdeckt. Der zweite Autor, der mich gefesselt hat, war Dick (der erste war Ray Bradbury). Später kam noch ein dritter hinzu: Kurt Vonnegut jr. mit "Sirenen des Titan", "Die Katzenwiege" oder "Schlachthof 5 oder: Der Kinderkreuzzug". Als ich drei oder vier Romane von Dick gelesen hatte (der erste war "The Crack in Space"/"Das Jahr der Krisen"), kam "Blade Runner" ins Kino.

Ich denke, Dick hat auf jeden Fall ein paar wegweisende Romane geschrieben. Dazu würde ich zählen: "Der dunkle Schirm", "Das Orakel vom Berge", die "VALIS"-Trilogie, "UBIK", "LSD-Astronauten", eventuell noch "Zeitlose Zeit". Aber ist er nicht doch ein Schundautor? Richtig ernst nehmen kann man seine Romane erst ab den 1960er Jahren. In dieser Zeit hat er aber extrem schnell und schludrig geschrieben. Stanislaw Lem hat nachgewiesen, daß sein bekanntestes Werk, "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" voller logischer Fehler und Widersprüche steckt. Trotzdem bin ich immer wieder in die irritierende und durchgeknallte Dick-Welt hineingezogen worden - selbst in einem eindeutig schwachen Buch wie "Das Jahr der Krisen".

Dick war in der SF äußerst einflußreich, aber die SF ist heute am Ende. Es gibt keine Zukunft mehr, die man sich gern vorstellen würde, selbst eine dystopische nicht. Wie wird man diesen Autor in 50 oder 100 Jahren sehen? Wird er dann vergessen sein? Aber Hollywood verfilmt einen Dick-Roman nach dem anderen...
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Alt 22.11.2015, 15:59   #21  
Servalan
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Verglichen mit dem Erzählen von Geschichten, ist Literatur im engeren Sinne eine ziemlich späte Erfindung. Damit es einen Buchmarkt gibt, müssen genügend Leute lesen und sich ihren Lesestoff leisten können.

Bis es das Taschenbuch gab, waren Bücher teure Luxusgüter. Den ersten Boom erlebte der Buchmarkt in den deutschsprachigen Ländern in den 1770ern bis 1780ern. Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) war ein veritabler Bestseller, der die Mode geprägt hat (wie in der Nachkriegszeit Jazz und Rock'n'Roll die "Halbstarken") und heute noch wegen der Selbstmordwelle zitiert wird (heute bewirken das Musiker wie Kurt Cobain).

Dienstboten und andere Leute mit wenig Geld waren deshalb auf billige Zeitschriften angewiesen, wo die künftigen Romane als illustrierte Fortsetzungen erschienen. Andere Möglichkeiten waren Leihbibliotheken oder gemeinsame Anschaffungen, zum Beispiel für die Bibliothek eines Arbeiterbildungsvereins.

Ohne eine verbindliche Schulpflicht gäbe es den Markt nicht. Aber das war nur eine Nebenwirkung, weil die Landesherrn Kanonenfutter rekrutieren wollten, das Lesen können mußte. Schließlich wurde Mitte des 19. Jahrhunderts der Krieg technisiert (Krimkrieg, Amerikanischer Bürgerkrieg). Mittlerweile wächst hingegen sogar in Deutschland der Anteil der Analphabeten in der Bevölkerung. Als weitere Einschränkung kamen damals wöchentliche Arbeitszeiten von mörderischen 60 bis 80 Stunden hinzu.

Meiner Meinung nach ist die Genrefrage von nachrangiger Bedeutung. Damit ein Stoff wirklich literarisch durchgearbeitet werden kann, muß der Autor eine gewisse abgeklärte Distanz haben - und das ist frühestens eine Generation nach den Ereignissen der Fall (siehe Leo Tolstois Krieg und Frieden von 1867/1869 über die Napoleonischen Kriege und das Rußland von 1805 bis 1812). Die besten Werke lassen Genrekonventionen hinter sich, teilweise entstehen sie erst, nachdem das jeweilige Genre seine Blütezeit schon weit hinter sich gelassen hat. Wer will, kann Miguel de Cervantes Saavedras Don Quijote (1605 und 1615) ja gerne als Ritterabenteuer lesen.

Deshalb glaube ich, daß Philip K. Dick und Lem auch in Zukunft gelesen werden. Möglicherweise finden spätere Generationen Dinge darin, die wir heute gar nicht wahrnehmen können oder wollen. Wie diese Ausgaben dann aussehen, wäre eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Ich kann nicht hellsehen.

Seufz, wem erzähle ich das?
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Alt 22.11.2015, 22:48   #22  
Peter L. Opmann
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Klar, Vorhersagen sind schwierig, insbesondere wenn sie sich auf die Zukunft beziehen.

Aber mir ging's auch nicht darum, ob Dick auch in Zukunft noch gelesen wird - wenngleich das sicher eine nicht unbedeutende Voraussetzung dafür wäre, daß er ein Klassiker ist.

Ich finde es schwierig, ihn einzuordnen. Am Anfang war er eindeutig ein Pulp-Autor - auch auf Deutsch sind seine Sachen zuerst als Heftromane erschienen. Dann wurde er innerhalb der Science Fiction wichtig. Aber inzwischen scheint die SF insgesamt nicht mehr wichtig zu sein.

Dick wollte immer gern "literarische" Romane schreiben, aber die nahm ihm kein Verlag ab. Nur "Groschenromane" konnte er verkaufen. Bloß daß diese Groschenromane dann auch bei Suhrkamp erschienen sind. Es gibt meiner Ansicht nach tatsächlich Indizien dafür, daß sie als Groschenromane richtig eingeordnet waren. Aber Dicks Romane waren ungemein einflußreich für die Populärkultur (sind es teils noch immer), sie sind oft originell, haben eine deutliche Handschrift, und sie verhandeln mitunter auch wichtige Themen wie Identität, die Gefahren der totalen Überwachung oder Dicks typische Frage: Was ist eigentlich Realität?

Ich habe übrigens auch zwei Mainstream-Romane von ihm gelesen: "Die kaputte Kugel" und "Der Mann dessen Zähne alle exakt gleich waren". Da fällt mir der Zugang schwer. Sein Roman "Der dunkle Schirm" enthält auch relativ wenige SF-Elemente, aber Dick ohne SF finde ich doch irgendwie langweilig...
Peter L. Opmann ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.11.2015, 17:00   #23  
Servalan
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Im Laufe der Zeit trennt sich die Spreu vom Weizen.

Dick wird es wohl ähnlich ergehen wie dem Politiker und Vielschreiber Edward Bulwer-Lytton (1803-1873).
Heute kennen ihn die meisten als Namenspatron des Bulwer-Lytton Fiction Contest (BLFC):
Zitat:
Im 20. Jahrhundert gelangte Bulwer-Lytton zu ganz neuer und unerwarteter Popularität durch den nach ihn benannten „Bulwer-Lytton Fiction Contest“ der San José State University. In diesem Wettbewerb geht es in verschiedensten Kategorien darum, den schlechtestmöglichen Anfangssatz eines (fiktiven) Romans zu schreiben. Grund dafür, dass ausgerechnet Bulwer-Lytton als Namenspatron für diesen wenig ehrenhaften Wettbewerb herhalten musste, ist sein berühmt gewordener Anfangssatz zu seinem Roman Paul Clifford: „It was a dark and stormy night …“. Dieser Satz inspirierte selbst Peanuts-Hund Snoopy zu schriftstellerischen Meisterleistungen.
Von seinem stattlichen Werk sind einige wenige Romane aus den unterschiedlichsten Gründen bekannt: Sein Sandalenroman The Last Days of Pompeii (1834) lieferte für Cinecittà und Hollywood das Handlungsgerüst; sein Rienzi-Roman (1835) inspirierte Richard Wagner zu einer Oper; und in seinem Spätwerk The Coming Race (1871) liefert er die Rohfassung für den Vril-Mythos.
Bei seinen deutschen Fassungen tippe ich darauf, daß der Name seines prominenten Übersetzers: Arno Schmidt, den eigentlichen Anreiz zum Lesen geliefert hat.
Im heimatlichen Großbritannien ist er zuerst eine Figur der Geschichte, der mit einigen Redewendungen ("Die Feder ist mächtiger als das Schwert") heute noch in der Umgangssprache gegenwärtig ist. Im Schulunterricht taucht über seine Verbindungen zu anderen Prominenten (Charles Dickens, Jeremy Bentham, Theosophinnen wie Annie Besant und Helena Blavatsky) wiederholt auf. Sein Roman The Last of the Barons (1843) schildert das Ende der Rosenkriege und liefert einen patriotischen Gründungsmythos der Tudors.

Worauf ich hinauswollte: Wenn ich daran denke, wie sich der Umgang mit Büchern und Literatur in den letzten 150 Jahren verändert hat, kommen weitere Faktoren ins Spiel. Während Bücher im Zeitalter der Aufklärung noch etwas Erhabenes ausstrahlten, befindet sich die Belletristik heute (wie die Comics) im Abseits. Bücher, die jemand unbedingt jetzt sofort gelesen haben muß, um mitreden zu können, sind selten. - Und selbst die werden binnen weniger Jahre verfilmt. Durch Wikipedia, Goodreads, Amaz*n-Kommentare und andere Quellen kann heute jeder smalltalken, ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben.
Heute sind eher Games, Serien und die sogenannten Sozialen Medien die Leitmedien. Die geben den Ton vor und prägen den Alltag. In den letzten Jahrzehnten sind innerhalb einer Generation etliche neue Varianten dazugekommen: Video, DVD, Stream, IMAX, Xbox, Wii ...

Ich müßte mich mal, bei den Historikern erkundigen, ob schon ein 'material turn' stattgefunden hat. Was ist das Buch? Reicht der bloße Text wie bei einem eBook aus? Welche Bedeutung hat das jeweilige als Objekt? Worüber geben mir die ergänzenden Texte und Bilder (Waschzettel, Cover, Vorwort / Nachwort, Kommentare, Reihe usw.) Auskunft? Welche Wechselwirkungen verbinden die wissenschaftliche Forschung mit dem Sammlermarkt?

Nüchtern betrachtet, befindet sich jedes veröffentlichte Buch in der Großen Lotterie der Klassik. Ab und zu bequemt sich die launische Fortuna, einen Titel zu ziehen ...

Geändert von Servalan (25.11.2015 um 21:16 Uhr)
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Alt 25.11.2015, 21:09   #24  
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Standard Giovanni Boccaccio: Il Decamerone (1348/1349-1353)

Diverse Ausgaben in deutschsprachigen Verlagen: Fischer TB, Artemis & Winkler, Anaconda, Dörfler, Reclam
Fassung in modernisiertem Italienisch in der Reihe Emozioni senza tempo (Fermento), alte Fassung in der Reihe Einaudi tascabili Classici (Einaudi)
https://de.wikipedia.org/wiki/Decamerone
http://www.klassiker-der-weltliterat...decamerone.htm
https://www.lernhelfer.de/schuelerle...ikel/decameron
http://www.mein-italien.info/literatur/decamerone.htm
https://it.wikipedia.org/wiki/Decameron
http://www.letteraturaitaliana.net/p...ume_2/t318.pdf (Italienisches Original, 896 Seiten)

Im Mittelalter wurde Literatur nach anderen Kriterien beurteilt als heutzutage: Als Klassiker galten ausschließlich antike Werke, die häufig aus dem Arabischen zurückübersetzt worden waren.
Weite Teile der Bevölkerung konnten weder lesen noch schreiben, denn meist stand das blanke Überleben im Vordergrund. Klöster und die Höfe von Fürsten oder Klerikern bildeten ein winziges Refugium der höheren Stände, die genügend Freiheiten besaßen, sich mit solchen Dingen zu unterhalten.

Der Name der Rose fängt jene Umbruchszeit ein, in der sich italienischen Stadtstaaten, die häufig miteinander verfeindet waren, das entwickelt, was wir heute unter Literatur begreifen. Das höchste Ansehen genoß eine Lyrik, die nach strengen Mustern entstand; auf die Prosa wurde verächtlich herabgesehen. Latein oder Griechisch besaßen eine Autorität, die der Umgangssprache des gemeinen Volkes, der Bauern und Fischer, der Händler und Handwerker, fehlte.
Die ersten großen Dichtungen im Volgare (dem damaligen Straßen-Italienisch) markieren einen deutlichen Bruch. Bis in unsere Tage prägen drei Namen den Aufbruch der europäischen Literatur:
  • Dante Alighieri (1265-1321) eiferte den antiken Versepen von Homer, Ovid und Vergil nach. Seine Divina Commedia (oder Commedia, deutsch Die Göttliche Komödie, 1307-1321) schildert die Reise eines etwa 40 Jahre alten Mannes durch Hölle und Fegefeuer ins Paradies.
  • Francesco Petrarca (1304-1374), den andere als ersten Bergsteiger und Begründer des Alpinismus kennen, faßt die Liebe zu seiner unerreichbaren Laura in 366 Gedichte (darunter 317 Sonette) - den Canzoniere (im Original Francisci Petrarchae laureati poetae Rerum vulgarium fragmenta, 1336-1374)
  • Giovanni Boccaccio (1313-1375) schildert in seinem Zyklus aus 100 Novellen (nichts anderes bedeutet der Titel) das alltägliche Leben aus unterschiedlichen Facetten. Im Vergleich zu Dante und Petrarca ist er lebendig und realistisch, außerdem schreibt er in Prosa.
1348 verheert die Pest, der Schwarze Tod, weite Teile Europa. Weil sich die Leute in Städten besonders leicht mit der tödlichen Krankheit anstecken, flieht aufs Land, wer sich das leisten kann.
In Florenz sind das sieben adlige Frauen, denen sich drei Männer anschließen (die Dienerschaft wird zwar mitgedacht, spielt aber keine große Rolle).
Damit das Warten auf der selbst gewählten Quarantänestation nicht zu langweilig wird, erzählen sich die Flüchtlinge nach einem strengen Rhythmus Geschichten.
Jeden Tag wird eine "Königin des Tages" oder ein "König des Tages" gewählt, der ein Thema vorgibt und die Runde moderiert. Dann plaudert jede und jeder der Reihe nach aus dem Nähkästchen.
Die Novellen erstrecken sich über diverse Genres: Für fast jeden Geschmack ist etwas dabei - phantastische und erotische Novellen, Wundergeschichten, Räuberpistolen, Verwechslungskomödien und historische Schlüsselanekdoten.

Aus der Wikipedia:
Zitat:
Wirkungsgeschichte

Bereits die Grammatiker und Rhetoriker der Renaissance waren der Ansicht, dass Boccaccios Dekameron ein Meisterwerk sei. Der Autor wurde zusammen mit Dante und Francesco Petrarca zum Wegbereiter und Vorbild für die eigenen Bestrebungen. Heute gilt das Dekameron unbestritten als Ursprung der italienischen Prosa überhaupt und als ein Werk, das die Weltliteratur nachhaltig beeinflusst hat. So wurde die Novellensammlung unter anderen von Geoffrey Chaucer (Canterbury Tales), Margarete von Navarra (Heptaméron), Miguel de Cervantes (Novelas ejemplares), François Rabelais und zahlreichen, heute nicht mehr so bekannten Autoren nachgeahmt. Johann Wolfgang von Goethe schätzte das Werk sehr und deutschte den Namen Boccaccios in Boccaz ein. Die Romantiker würdigten ebenfalls die Novellensammlung besonders und wurden zu eigenen Werken angeregt, so zum Beispiel Honoré de Balzac mit seinen im späten Mittelalter spielenden Tolldreisten Geschichten. Stoffe einzelner Erzählungen benützten William Shakespeare (Cymbeline und Ende gut, alles gut), Hans Sachs und Jonathan Swift. Die Figur des Melchisedech und das Motiv der drei Ringe, die nicht mehr zu unterscheiden sind (I.3), liegt der Ringparabel in Gotthold Ephraim Lessings Drama Nathan der Weise zugrunde.
In meinem alten Deutsch-Schulbuch gab es die "Falkennovelle" (9. Novelle des 5. Tages).
Als Diogenes eine Taschenbuch-Kassette herausbrachte, habe ich sie mir "wegen der erotischen Stellen" gewünscht. Von meinen Eltern hatte ich nichts zu befürchten: Mit Weltliteratur konnten die nichts anfangen. Und verglichen mit den Kioskauslagen der 1970er Jahre waren besagte Stellen keusch und züchtig.
Gelesen habe ich den Schmöker trotzdem gerne.
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Alt 27.11.2015, 16:16   #25  
Servalan
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Standard Choderlos de Laclos: Les Liaisons dangereuses (1782)

Le Livre de Poche: Les Classiques de Poche, 573 Seiten
Deutsche Ausgaben bei dtv (2007) / Hanser (2003) und Beck (1988)
https://de.wikipedia.org/wiki/Gefährliche_Liebschaften
https://fr.wikipedia.org/wiki/Les_Liaisons_dangereuses

Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos (1741-1803) beschäftigte sich hauptsächlich mit Rekruten und Kanonen, denn er machte als Hauptmann Karriere und wurde später zum General bei der Artillerie der ernannt.
Etliche Leute behaupten vollmundig, sie könnten einen Roman schreiben. Nun ja, Choderlos de Laclos hat diese Idee in die Tat umgesetzt. Am Vorabend der Französischen Revolution erschien sein einziges Buch und machte sofort Furore. In erster Linie wurde dabei getratscht und gerätselt, welche echten Höflinge sich hinter welchen fiktiven Figuren verbargen.
Wer bösartig sein will, kann den Autor als männliche Charlotte Roche seiner Zeit ansehen. Aber im 19. Jahrhundert wurde der Roman regelmäßig nachgedruckt und seither von den prägenden Gestalten der französischen Literatur (Baudelaire, Giraudoux, Malraux, Roger Vailland) gelobt und verehrt. Und weil der belletristische Seitensprung des Militärs heute unbestritten zur Weltliteratur zählt, würdigt die Wikipedia den Autor der Les Liaisons dangereuses. Lettres recueillies dans une société et publiées pour l’instruction de quelques autres (so der vollständige Titel) mit einem Eintrag.

Natürlich geht es um Kabale und Liebe bei Hofe.
Zwei Libertins, die Marquise de Merteuil und der Vicomte de Valmot, versuchen, sich bei ihren Intrigen gegenseitig auszutricksen. Für ihr erotisches Schachspiel nutzen sie dabei skrupellos, raffiniert und hinterlistig lebendige Menschen, über deren Verhalten Wetten abgechlossen werden. Zum Vergnügen korrumpieren und verderben sie diejenigen, über die sie Macht haben und waiden sich an ihrem Schmerz, ihrem Leid und ihrem Unglück.
Zu den Benutzten gehört die 15 Jahre junge Cécile de Volanges, die gerade ihre Klosterschule verlassen hat und bei Höfe die Welt kennenlernt, während sie sich auf ihre Hochzeit mit dem wesentlich älteren Comte de Gercourt vorbereitet.
Bei der zweiten Wette fordert die Marquise de Merteuil den Vicomte de Valmot heraus, seinen Ruf unwiderstehlicher Verführer zu beweisen, indem er Madame de Tourvel, eine loyale, treue und prüde Ehefrau, auf Abwege lockt.
Leider sind die Menschen nicht so naiv und so leicht manipulierbar, wie sich die Strippenzieher das vorstellen. Wenn dann noch eigene Gefühle das Handeln durchkeuzen, muß gewaltig improvisiert werden.

Sprachlich recht anspruchsvoll, erscheinen Choderlos de Laclos' Figuren auf den ersten Seiten wie blasse Chargen, die als Stereotype durchgehen können. Ziemlich rasch brechen die Klischees auf. Der Autor entlarvt das Spiel von Schein und Sein eher unterderhand, verleiht seinen Figuren eigene Stimmen und läßt sie in 175 Briefen lebendig werden.
Choderlos de Laclos' Gefährliche Liebschaften bieten ein größeres Lesevergnügen als der monomanische Über-Philosoph der Libertinage, der "Göttliche Marquis" de Sade. Mit seinen mehrfachen Verschachtelungen, Doppelungen und Brechungen ähnelt er meiner Ansicht nach einem anderen Genre: dem Spionageroman. Hier wie dort gilt es, zu sehen, ohne gesehen zu werden, und zu handeln, ohne dafür belangt zu werden.

Geändert von Servalan (27.11.2015 um 19:16 Uhr)
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