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Alt 27.03.2016, 16:33   #76  
Servalan
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Zitat von Peter L. Opmann Beitrag anzeigen
Aber das mit der Recherche ist doch eine knifflige Sache. Wenn man von Medizin keine Ahnung hat, nützt es auch nichts, wenn man im Pschyrembel nachschlägt. Man braucht einen Überblick über medizinische Zusammenhänge, sonst nützt einem auch das richtige Fremdwort am richtigen Ort nichts. Das gilt genauso für alle anderen Naturwissenschaften - und für die Geisteswissenschaften vermutlich erst recht.

Da würde ich lieber von Fachbegriffen die Finger lassen, wenn ich mich mit dem Fach eigentlich nicht auskenne. Oder wenn das extrem wichtig für meinen literarischen Text ist, dann würde ich mich richtig informieren. Etwa bei einem Freund, der sich in dem Fachgebiet auskennt. Oder ich würde mal einen richtigen Kurs machen, der mich in das Gebiet einführt.
Ehrlich gesagt, ich bezweifle, daß gerade junge Schreibanfängerinnen und -anfänger so abstrakt, formal und zielgerichtet vorgehen.
Es gibt immer mehrere Möglichkeiten, sich Wissen anzueignen, von denen jede ihre besonderen Stärken und Schwächen hat.
Aber keine ist per se schlechter als die andere.

Gerade unter Genreautoren finden sich etliche Seiteneinsteiger, die ihr Basiswissen in ihrem (früheren) Brotberuf erworben haben: als Anwälte wie Ferdinand von Schirach, John Grisham und Jens Lapidus, als Pathologin wie Kathy Reichs, als investigative Journalisten wie Stieg Larsson, als IT-Fachleute wie Andreas Eschbach, als Raumfahrttechnier wie Ziolkowski ... die Reihe ließe sich fortsetzen.

Wem der Weg über die Sprache besser liegt, wird sich das Grundwissen wahrscheinlich durch bezahlte Übersetzungen aneignen. Der Eintritt in den richtigen Fachverband (zum Beispiel Syndikat bei Krimiautoren) erleichtert vieles und sorgt dafür, peinliche Schnitzer im vorwege zu vermeiden.

Das Schwierigste dürfte nicht formalisiertes Wissen sein: Leider reicht es nicht, irgendwo Smalltalk zu protokollieren, um einen überzeugenden Dialog in einem Roman zu verfassen. Szenisches Schreiben muß Sachverhalte berücksichtigen, die aus dem Sprachkunstwerk selber kommen. Wenn der Stoff "realistisch" rüberkommen soll, müssen diese Tricks und Kniffe hübsch kaschiert werden, damit die Erzählung im Fluß bleibt.
Oder der Schreibende weicht lieber auf indirekte Rede aus und wendet sich von vornherein an ein anderes Publikum.

Ohne Konzept vergeude ich meine Kräfte.
An dem Punkt kann ich mich entscheiden, ob ich Wissen brauche, und wenn ja, welches.
Durch meine Wahl der Perspektive, des erzählerischen Fokus und des Erzählansatzes schaffe ich mir die Möglichkeit, bestimmten Wissensgebieten weiträumig auszuweichen und mich auf die zu konzentrieren, die mir liegen.
In einem Krimi kann ich komplett auf das scheibar obligatorische Pathologenchinesisch verzichten, wenn ich die polizeiliche und juristische Ermittlung in den Hintergrund schiebe und mich auf Rivalitäten, Verrat und Hierarchien im Gangstermilieu beschränke - wie Jens Lapidus' Easy-Money-Trilogie.

Je besser ich das Schreiben beherrsche, desto mehr Freiheiten habe ich und kann mich subtil mit vagen Andeutungen begüngen. Das Publikum reimt dann schon das Richtige zusammen.

Geändert von Servalan (29.10.2016 um 16:36 Uhr)
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Alt 27.03.2016, 17:59   #77  
Peter L. Opmann
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Zitat von Servalan Beitrag anzeigen
Je besser ich das Schreiben beherrsche, desto mehr Freiheiten habe ich und kann mich subtil mit vagen Andeutungen begüngen. Das Publikum reimt dann schon das Richtige zusammen.
Das sehe ich genauso. Ist aber was ganz Anderes, als so zu tun, als würde man sich in einem Fachgebiet auskennen. Mir fallen dabei immer die Fehler von Karl May in seinen Reisebeschreibungen ein. May hat ja alles aus Lexika und anderen, echten Reiseberichten abgeschrieben und hatte dabei das Glück, daß auch so gut wie niemand sonst Amerika und Asien aus eigener Anschauung kannte.
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Alt 27.03.2016, 18:25   #78  
Servalan
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Auf der anderen Seite nützt aber auch der sorgfältigste Umgang mit den aktuellsten Forschungsergebnissen nur bedingt. Die Wissenschaften verändern sich stetig, und irgendwann sind solche Erkenntnisse hoffnungslos veraltet.

Der Vorgang läßt sich gut an Thomas Manns Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder studieren. Einerseits gibt die Literatur wissenschaftlichen Disziplinen Impulse, zum Beispiel der Theologie; andererseits läßt sich das Werk von Fachwissenschaftlern wie dem Ägyptologen Jan Assmann gegen den Strich als zeitgenössisches Sachbuch lesen.
Die Wechselwirkungen sind komplex und lassen sich nicht auf ein plumpes Schema vereinfachen. Die veränderte Einordnung wird auf jeden Fall das jüngere Publikum der Zukunft beeinflussen.
Die Grenzen zwischen dem, was als Belletristik gelesen wird und was als populäres Sachbuch, bilden eine Grauzone.

Geändert von Servalan (12.04.2016 um 12:00 Uhr)
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Alt 12.04.2016, 12:09   #79  
Servalan
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Durch die technischen Möglichkeiten verändert sich die Verlagsbranche, denn neue Möglichkeiten bieten ungewohnte Chancen und ziehen natürlich juristische Konsequenzen nach sich.

Justitiar Rainer Dresen steht der Rechtsabteilung des Medienkonzerns Random House vor, tritt beispielsweise auf der Leipziger Buchmesse öffentlich auf und berichtet von den neuesten Entwicklungen.

Am 20. März 2016 ließ er sich von Wolfgang Tischer (literaturcafe.de) interviewen:
Juristische Fallstricke bei der Buchveröffentlichung. Gespräch - als Audio bei Voice Republic (43:37 min)
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Alt 16.04.2016, 09:11   #80  
G.Nem.
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Besondere juristische Gegebenheiten entstehen auch durch die Tatsache das Ideen nicht geschützt sind.

Ich habe das zur Info mal am Beispiel eines Kinderbuch-Manuskripts in meinem Blog zusammen gefasst >
https://zeichenmaschine.wordpress.co...ht-geschuetzt/
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Alt 17.04.2016, 15:47   #81  
Servalan
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Veränderungen hat es immer gegeben, aber nach dem Umbruch zu Gutenbergs Zeiten waren das meist feine Nachjustierungen.
Nachdem in den 1770ern und 1780er der Buchmarkt entstand, so wie wir ihn kennen, waren zumindest in den nächsten gut 200 Jahren die Rollen vom Autor, Verlag, Buchhandel und Publikum klar und sauber voneinander getrennt.

Seit Mitte der 1990er werden zumindest die Grenzen unscharf, und an den Universitäten, in Konferenzen und auf Tagungen wird munter diskutiert, was als nächstes kommt.
Der User Generated Content von den Prosumern wird zum Symptom für einen neuen Umbruch, der mittlerweile auch die schöne Literatur erfaßt hat: Die gewohnten Kategorien brechen auf.
Was ist heute ein Werk? Wer gilt heute als Autor (Schöpfungshöhe)?

Wer sich in diese Thematik vertiefen will:

Thomas Ernst: Nach dem geistigen Eigentum? Die Literaturwissenschaft und das Immaterialgüterrecht - Video (27 min)
Zitat:
Einführungsvortrag von Dr. Thomas Ernst beim Workshop "Nach dem geistigen Eigentum? Digitale Literatur, die Literaturwissenschaft und das Immaterialgüterrecht", der am 10. Januar 2014 im Bibliothekssaal der Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, stattgefunden hat.
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Alt 02.05.2016, 16:02   #82  
Servalan
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Standard Wie kommt das Wissen in die Geschichte? (Teil 1)

Mit 12 habe ich meine ersten Versuche gemacht, und das sollten selbstverständlich Romane sein. In meinem Ehrgeiz konnte ich den Höhepunkt nicht erwarten, der mich beim Lesen beeindruckt hat. Wie im Rausch habe ich geschrieben, und die Endorphine haben mir das Hirn vernebelt. Spätestens nach zehn oder zwanzig karierten Seiten in meinem Ordner war die Luft raus ... Übrig blieb ein klägliches Wrack, für das ich mich geschämt habe.
Warum funktionierte das bei mir nicht, was Robert Louis Stevenson locker gelingt? Ich war neidisch auf mein bewundertes Vorbild.

Ohne Konzept mußte ich scheitern. Schließlich hatte ich ins Blaue improvisiert.
Aber was in meiner Vorstellung eindrucksvoll und mitreißend gewesen sein mußte, das las sich abgedroschen und langweilte zu Tode.
Schmerzhaft lernte ich meine Lektion: Ich muß auf kreative Weise lesen und mir die Kenntnisse meiner Idole mühsam aneignen. Ich brauchte ein Grundwissen über all das, was vor meiner Zeit in der Literatur abgelaufen ist.
Das dauert Jahre und Jahrzehnte, obwohl ich auch jetzt noch dazu lerne.

Wer Comics zeichnen will, kopiert zunächst Figuren und Posen der Meister. Beim Schreiben ist es ähnlich: Abschreiben und nachmachen ... und schon folgt der nächste Stolperstein, denn ich merke, wieviel Wissen in kleinen Andeutungen oder Hinweisen versteckt ist.
Manche Dinge oder Effekte scheitern, weil mir Details fehlen oder ich als Laiin falsche Schlüsse ziehe und Blödsinn verzapfe.

Wahrscheinlich bin ich nicht die Einzige, die in jüngsten Jahren meinte, sie müsse von vornherein jedes Mißverständnis vermeiden und eine gute Idee, einen guten Plot, eine gute Story mit verquasselten Informationen zumüllt.
Manche Genres vertragen mehr davon als Erzählungen aus dem Alltag: Technobabble, Kunstsprachen und Glossare über fremdartige Wesen und Welten werden von Science Fiction- und Fantasy-Fans geradezu erwartet;
wenn ich ein bestimmtes Ambiente (Pathologie, Justiz, Forstwissenschaften oder ähnliches) nutzte, darf ich das Publikum kurzfristig durch Expertenwissen verstören ...

Außerdem steht jedem mutigen Schreiberling ein unübersichtliches Arsenal an legitimen Techniken und Romantypen zur Verfügung. Ich muß nur aufpassen, daß ich mit meinen Zeilen das Publikum erreiche, was mir vorschwebt.
Durch die Allgegenwart der Medien ist sogar das Publikum vermeintlich leichter Unterhaltung mit anspruchsvollen Verfahren vertraut, und das erlaubt mir die Freiheit, Techniken zu nutzen, die vor zwei oder drei Generationen noch Avantgarde gewesen sind.
Schon 1973 erschien Stanisław Lems Imaginäre Größe (Wielkość urojona), das sich als Sammlung von Vorwörtern präsentiert. Aber sämtliche vorgestellten Werke sind fiktiv (existieren also gar nicht real), und Lem krönt diese Posse mit einem Vorwort der Vorwort-Anthologie.

Geändert von Servalan (21.06.2016 um 17:33 Uhr)
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Alt 02.05.2016, 17:13   #83  
Peter L. Opmann
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Mein erstes Vorbild war Enid Blyton. Ich weiß nicht, ob ich zwölf war, aber in diesem Bereich war mein Alter schon. Eine Detektivgeschichte mit Kindern. Mir kam's darauf an, ein richtiges Buch zu produzieren, wobei es natürlich nur eine Ähnlichkeit gab. Ich habe Schreibschrift mit blauer Tinte geschrieben, so daß das Buch eher wie eine Fibel aussah. Dabei habe ich 16- oder 24-seitige Bücher vollgeschrieben, die am Ende mit Uhu zu einem etwa 100-seitigen Buchblock verklebt und amateurhaft mit Pappe einen Buchumschlag gebastelt. Interessant war aber: Ich habe inzwischen eine 12-jährige Nichte. Der habe ich dieses Buch kürzlich gegeben, und sie fand's spannend.

Einen zweiten Einstieg in die Literatur habe ich mit 16 versucht. Damals gab es eine Reihe von SF-Anthologien, die von Thomas LeBlanc betreut wurde. Dem habe ich meine erste professionell gemeinte Kurzgeschichte geschickt. Es ging um Androiden - mein Vorbild war inzwischen Philip K. Dick. LeBlanc hat mir geantwortet, allerdings sehr bestimmt: Diese Story sei für seine Sternen-Anthologie nicht geeignet. Ich erinnere mich noch an den Satz: "Man merkt bei Ihnen die geringe Erfahrung im Schreiben." Danach habe ich allerdings mit dem Schreiben von Belletristik sofort aufgehört und bin - glücklicherweise? - nicht freier Schriftsteller geworden.
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Alt 03.05.2016, 14:30   #84  
Servalan
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Vieles hängt vom Elternhaus ab: Die Familien meiner Eltern sind Vertriebene, entsprechend mager war der Hausstand. Nach heutigen fielen meine Eltern wohl in die Kategorie "bildungsferne Schichten", obwohl beide selbständig waren (und es teilweise noch sind). Was jemand getan hat, mußte entweder nützlich sein oder Geld bringen, und Bücher haben nur gekostet.
Mit den Büchern meiner Eltern konnte ich wenig bis überhaupt nichts anfangen. Mein Vater muß wohl mal in einem Buchklub gewesen sein, denn von ihm stammte die Reihe im Wohnzimmerregal. Von Karl May besaß er zwei Trilogien, natürlich Winnetou, aber nicht Old Shatterhand, sondern Old Surehand. Mit denen konnte ich nichts anfangen.
Was mich begeistert hat, war ein Bildband über die Entstehung der Erde, den ich aber nie gelesen habe. Das edle Buch durfte ich bloß mit spitzen Fingern anfassen, als ich schon im Gymnasium war. Die übrige Zeit stand es irgendwo hinter dem Fernseher. Allein das Herauskramen war für jemanden, der noch wuchs, eine umständliche Aktion.
Mein anderer Favorit war ein Wilhelm-Busch-Hausbuch, das ich verschlungen und wiedergelesen habe.
An Zeitungen kamen leider das unvermeidliche Springer-Blättchen und eine Lokalzeitung (Holsteinischer Courier) ins Haus. Wohl oder übel habe ich versucht, mir eine Grundlage in Sachen Kultur allgemein und Literatur im besonderen anzueignen. Also habe ich fleißig aspekte geschaut.

Der Deutschunterricht mit den unvermeidlichen Interpretationen hat mich geprägt (und zunächst in eine falsche Richtung gedrängt). Komischerweise hat mich das Studium aus diesem neurotischen Denken befreit, Literatur- und Medienwissenschaft plus Kunstgeschichte haben mir den Horizont geöffnet.

Wo ich aufgewachsen bin, gab es zu meiner Grundschulzeit eine winzige Filiale der Stadtbücherei, und da habe ich ein paarmal was ausgeliehen.
Letztlich sabotierten meine Eltern in ihrem Reinlichkeitswahn, daß ich günstige Lektüre bekam: "Wer weiß, wer das angefaßt hat! Paß auf, daß du dich nicht ansteckst, bei den Viren und Bakterien!"
Über kurz oder lang lief das auf ein Verbot von allen Büchern heraus, die nicht niegelnagelneu (und sauteuer!) waren: Nix vom Flohmarkt! Nix aus dem Antiquariat! Nix aus einer öffentlichen Bibliothek!

Was war das Ende vom Lied?
Ob zum Geburtstag oder zu Weihnachten, jedesmal maulte meine Mutter herum: "Immer nur Bücher, du wünscht dir immer nur Bücher. Wünsch dir doch mal was Nützliches - oder was Vernünftiges!"
Als ich ausgezogen bin, habe ich mir natürlich herausgepickt, die mir wichtig war und solche, die ich fürs Studium gebraucht habe. Für meine Eltern waren alle Bücher gleich, die hätten am liebsten die Regale sauber und ordentlich Meter für Meter ausgeräumt ...

Wer in einem Elternhaus aufwächst, in dem Kultur und Literatur geschätzt werden, ist natürlich im Vorteil.
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Alt 03.05.2016, 15:17   #85  
Peter L. Opmann
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Oje, das klingt ja nicht so schön.

Meine Eltern waren Kleinbürger, aber sie waren nicht bildungsfeindlich. Sie trugen eigentlich ein paar Widersprüche in sich, die ich ganz sympathisch finde.

Zum Beispiel hatte mein Vater die "Fuldaer Volkszeitung" abonniert, obwohl er glühender CDU-Anhänger war, weil die einfach besser geschrieben war als das konservative Konkurrenzblatt.

Meine Eltern haben mir, als ich noch klein war, auch öfters Comics vom Einkaufen mitgebracht, obwohl sie die eigentlich für Schund hielten. Aber sie respektierten, daß ich sie mochte.

Meine Mutter war auch in einem Buchclub - das war in den 1950er Jahren wohl unglaublich weit verbreitet. Sie hat nur Volksschulabschluß, las aber gern Bücher von Pearl S. Buck. Mein Vater (ein Ingenieur) kam aus einer Lehrerfamilie (meine Oma hat mir auch schon während der Kindergartenzeit Lesen und Schreiben beigebracht). Aus dieser Richtung her waren bei uns unglaublich viele Bücher im Haus; ich hatte immer ein bißchen die Vorstellung: Egal, welches Thema - ich werde dazu bei uns irgendein Buch finden, das mir das erklärt.

Ich hatte allerdings Freunde, die ich um ihre Bildung beneidet habe. Die waren - anscheinend - auf der Höhe der Kultur, konnten bei neuen Trends in Kunst, Literatur, Musik oder Film mitreden und Werke einordnen. Ich habe dagegen immer wahllos gelesen und stieß nur zufällig auf Sachen, die mich weitergebracht haben.
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Alt 03.05.2016, 17:12   #86  
Servalan
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Manchmal habe ich das Gefühl, ich hätte mich frei nach Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. Selbstmitleid liegt mir nicht, obwohl ich einige heftige Stories erzählen könnte - aber das Autobiographische bereitet mir Schwierigkeiten. Mir ist das einfach nur peinlich.

Vielleicht habe ich deswegen jedes Buch extrem sorgfältig gelesen.
Mit Büchern konnte ich immer mehr anfangen als mit Menschen. Insofern habe ich mich mit meiner Freizeit-Lektüre selbst erzogen.
Außerdem lagen meine Interessen im toten Winkel meiner Eltern. Sobald es um Klassiker ging, konnte ich die 50er-Jahre-Prüderie meiner Erziehungsberechtigten austricksen: Boccaccios Decamerone, Chaucers Canterbury Tales und Laurence Sternes Tristram Shandy haben mich in der Pubertät natürlich auch wegen der "Stellen" begeistert ...

Ende der 90er Jahre sind diverse meiner Geschichten und anderer Texte anderswo (ohne mein Wissen und folglich ohne mein Okay) nachgedruckt worden. Teilweise kursieren von mir Sachen jetzt noch im Netz herum, und ich erfahre das nur, falls ich meinen Namen google.
Und bei den 24-Stunden-Lesungen hatte ich teilweise tief in der Nacht ein kleines, aber treues Publikum.
Weshalb sollte ich mich also beklagen? Ich bin glimpflich aus der Chose herausgekommen ...
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Alt 03.05.2016, 18:56   #87  
Peter L. Opmann
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Hallo Servalan,

da wäre ich für eine pragmatische Betrachtungsweise. Vielleicht gibt es Extremfälle wie Kaspar Hauser, dem fast jede Entfaltungsmöglichkeit genommen wurde (aber auch er hat in der kurzen Zeit, die er hatte, sehr viel gelernt und Talente gezeigt). Normalerweise ist niemand von seinen Eltern völlig determiniert, sondern er kann auch selbst bestimmen, was er aus sich macht.

Das gefällt mir wesentlich besser als nur zu sehen, was einem in seinem Elternhaus alles entgangen ist.
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Alt 20.05.2016, 17:43   #88  
Servalan
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Der Wahrnehmungspachologe Rainer Mausfeld von der Universität Kiel dürfte einem Teil des Publikums schon durch seinen Vortrag Waum schweigen die Lämmer? (vom 22. Juni 2015) bekannt sein, der mehrfach gespiegelt wurde und mehrere Hunderttausend Zugriffe hatte.

Einige Posts weiter oben hatte ich geschrieben:
Zitat:
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Bei meinen Lesungen wunderte ich mich des öfteren, wie wenige Andeutungen genügten, um das Publikum vom "Realismus" der Geschichte zu überzeugen.
Punkt, Punkt, Komma, Strich - das reichte vollkommen aus, schon entdeckten die meisten Zuhörer ein Gesicht.
Online schwirrt ein Vortrag von Rainer Mausfeld herum, den er 2012 auf einer Konferenz gehalten hat und diesen Effekt erklärt: Menschen müssen handeln, wenn sie überleben wollen, deshalb verzerren unsere Sinne die "echte" Welt so, daß wir reagieren und handeln können. In den krudesten Mustern können wir Gesichter erkennen, und aus wenigen Details basteln wir uns Geschichten zusammen, um einen Sinn oder eine Bedeutung zu finden ...

Prof. Dr. Rainer Mausfeld - Konferenz-iii 2012 - (58 min auf vimeo)

Diese Konferenz wurde auch von Interessierten aus anderen Fachgebieten besucht, deshalb geht der Wahrnehmungspsychologe nicht ans Eingemachte seiner Fachdisziplin sondern bleibt allgemein verständlich.
Wer diese Grundlagen verstanden hat, dem oder der fällt das Schreiben leichter ...

Geändert von Servalan (20.05.2016 um 21:15 Uhr)
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Alt 23.05.2016, 15:29   #89  
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Standard Wie kommt das Wissen in die Geschichte? (Teil 2)

Die beste Anregung zum Thema liefern gelungene Beispiele, und da möchte erst einmal auf Agatha Christie verweisen. Ihre ältere Schwester Margaret Frary Miller (1879–1950) schrieb für Magazine und galt als die eigentliche literarische Begabung, die ihre jüngere Schwester neckte und sie mit einer Wette herausforderte. Denn Marge nahm an, Agatha wäre nicht fähig, einen Kriminalroman zu schreiben ...

In den Lazaretten des (Ersten) Weltkriegs assistierte Agatha Christie bei blutigen Operationen und eignete sich pharmakologisches Wissen an: Ihre Kentnisse über Gifte tauchen regelmäßig wieder auf.
Durch ihren zweiten Ehemann, den Archäologen Sir Max Mallowan, lernte sie auf Ausgrabungen die Geschichte des Nahen Ostens kennen. Durch ihre Fachbeiträge erwarb sie sich in dieser Disziplin einen hervorragenden Ruf, und ihre Filmaufnahmen von Ausgrabungen zählen ihren weiteren Leistungen.
Diese exotischen Gegenden waren für John und Mary Doe etwas Ungewöhnliches, für Agatha Christie aber Alltag, der sich in ihren berühmtesten Werken (Mord im Orient-Express, Tod auf dem Nil und Mord in Mesopotamien) spiegelt.

Wie sich ihr Wissen mit ihren Geschichten verbindet und ihren Stil prägt, der auf den ersten Blick fürchterlich unbeholfen wirkt, aber letztlich einen Sog entfacht - das zeigt die ITV-Dokumention von 2005:

The Agatha Christie Code - (50 min, nur in Englisch!)
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Alt 09.06.2016, 18:07   #90  
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Standard Im besten Fall, im schlimmsten Fall

Einfach mal angekommen, ihr habt das Kunststück vollbracht und euch ist der Durchbruch gelungen. Wie sieht das aus? Was passiert dann? Womit müßt ihr rechnen? Worauf solltet ihr euch einstellen? Auf was müßt ihr euch vorbereiten?

Achtung: Bleiben wir bei den Fakten! Ich möchte niemandem etwas vom Pferd erzählen und mir irgendwelche kruden Ideen aus den Fingern saugen.
Deshalb möchte ich zurück in die Vergangenheit blicken: Schließlich gibt es quer über den Globus die Klassiker der höchsten Hochkultur, von den Heroen aus Weimar und den Romantikern über Dante, Boccaccio und Petrarca oder Racine, Molière und Corneille bis hin zu Swift, Milton und Shakespeare.
Deren Werke müssen es seit Jahrhunderten aushalten, immer wieder neu erfunden, parodiert und persifliert, in alle mögliche Medien übertragen zu werden. Klar, daß darunter auch Nachschöpfungen oder Übersetzungen sind, die die Autoren vermutlich als Verhunzungen oder Entstellungen empfunden hätten.

Leider sind sie tot - und können sich nicht mehr wehren.

Und ab einem gewissen Grad des Erfolgs, läßt sich da nichts mehr kontrollieren.
Wem schon das Lektorat an die Nieren gegangen ist, der muß bei den Rezensionen oder Empfehlungen in den Social Media mit Heftigerem rechnen.
Dünnhäutige wie Günter Grass können sich dann ungerecht behandelt fühlen, selbst wenn andere feststellen, daß eigentlich das positive Echo bei Kritik und Publikum überwiegt.
Der Rummel gehört zum Spiel dazu (Zu Risiken und Nebenwirkungen ...), da müßt ihr durch. Nachher werdet ihr umso erleichter aufatmen, wenn ihr euer nächstes Werk schreibt.

Gary Taylor hat diesen Prozeß bei dem Giganten Shakespeare über mehrere Jahrhunderte verfolgt. In dieser Zeit hat sich die Gesellschaft stark gewandelt, und diese Entwicklungen spiegeln sich im jeweiligen Verständnis dessen, was Zeitgenossen unter Literatur verstanden haben und verstehen.
Das Erstaunliche an dieser Studie war für mich die Erkenntnis: Was schert es die Buche, wenn sich ein Wildschwein an ihr kratzt? So gut wie nichts.
Eher im Gegenteil, solange Werke lebendig bleiben, müssen sie sich auf der Straße bewähren, unter Leuten, nicht nur unter Spezialisten und Fans.
Hier scheint sich der Spruch zu bewähren: Viel Feind, viel Ehr.
Je mehr über das literarische Werk geschrieben wird, wobei schnurz ist, was denn nun: Rezensionen, wissenschaftliche Aufsätze, Ratgeber, Versionen für Kinder, Aktualisierungen ... umso besser: All das fördert nur den Ruhm des Werks.

Mein Lektüretipp:
  • Gary Taylor: Shakespeare - Wie er euch gefällt. Die Geschichte einer Plünderung durch vier Jahrhunderte, Kellner Verlag 1992 [im Original: Hogarth Press 1990], 555 Seiten
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Alt 27.07.2016, 18:41   #91  
Servalan
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Standard Anatomisch korrekt

Zu den hinterhältigsten Patzern, die einer oder einem beim Schreiben unterlaufen können, gehört die Schilderung einer Szene, in der sich eine Figur verrenkt - und sich benimmt, als wäre nichts geschehen.
Sobald sich das Publikum in eine Geschichte versenkt hat, befindet es sich in einer imaginären Welt und die Spiegelneuronen reagieren schneller als der Blitz.
Solche Unstimmigkeiten spürt das Publikum meist unbewußt. Es bekommt mit, daß etwas nicht stimmt, und ist irritiert, ohne auf Anhieb den Grund erkennen zu können. Auf diese unsanfte Weise wird es aus der Story katapultiert ...

Die oder der Lesende auf der Bühne allerdings wundert sich, weil sie oder er nicht nachvollziehen kann, was nun falsch gelaufen ist. Je realistischer und je szenischer ein Werk verfaßt worden ist, desto höher ist das Risiko.
Gemeinerweise fällt dieser Schnitzer auch beim x-ten Korrektur lesen nicht auf. Falls ein Lektor das liest, wandert das Manuskript jedoch ohne viel Federlesens auf den Stapel der abgelehnten Einsendungen.

Das einzige Mittel dagegen: selber machen.
Es muß euch ja niemand über die Schulter schauen.
Versetzt euch während des Schreibens in eure Figuren und ahmt diese in Gedanken nach. Stellt euch die Bewegungen räumlich vor. Macht sie nach und achtet darauf, ob die Gesten so funktionieren, wie ihr euch das imaginiert hab. Ihr könnt so oft probieren, wie ihr wollt. Ihr dürft nur nicht zu früh aufgeben.
Entweder eure Figur bewegt sich im normalen Rahmen - oder sie verrenkt sich ihre Knochen, dann muß sie irgendwie reagieren.

Zeichner und Maler benutzen Modelle als anatomisch korrekte Vorlage. Fachgeschäfte für Künstlerbedarf haben für gewöhnlich Gliederpuppen und Gliederhände im Sortiment.

Diese Ebene des Erzählens sollte auch bei anderen Lebewesen beachtet werden, die unter Umständen häufiger in eurer Geschichte vorkommen: also vor allem Pferde und Esel, Hunde und Katzen.
Es klingt abwegig, aber manchmal erweist sich ein Besuch auf dem Pferdehof als unerläßliche Fortbildung, wenn jemand eine historische Geschichte erzählen will.

Geändert von Servalan (04.11.2016 um 16:53 Uhr)
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Alt 31.07.2016, 17:36   #92  
Servalan
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Standard Sprachmusik, Sprachkritik, Sprachkunst

Worte haben nicht nur Bedeutungen, jede Suílbe hat ihren eigene Klang und der ändert sich je nach Syntax. In der richtigen Reihenfolge prägt sich eine Sentenz durch die Wortmelodie besser ein als in einem Satz, der einfach so aus dem Mund kommt.

In Post #3 hatte ich einen dicken Band über die Sprache zitiert, der auf unterhaltsame Weise in die Grundlagen der Linguistik einführt:
Zitat:
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  • Douglas R. Hofstadter: Le Ton beau de Marot: In Praise of the Music of Language (Basic Books, New York 1997 und Bloomsbury Publishing Plc, London 1997 - 832 Seiten)
Wer Sprache mag, und das sind in der Kindheit die meisten, erkundet sie spielerisch und hatte seine Freunde an Wortspielen und ausgedachten Geheimsprachen. Selbst die Muttersprache ist jedoch ein so gewaltiges Terrain, daß sich jemand darin verlaufen kann.
Eltern sind hier im Vorteil. Mütter und Väter können ihren Kindern Bücher vorlesen, die kalauernd und kindlich vorbehaltlos in die Muttersprache(n) einführen.

Sprache kann aber auch dazu benutzt werden, mit zahlreichen Worten nichts zu sagen oder Bedeutungen in ihr Gegenteil verkehren (Euphemismen): aus einer "Müllhalde" wird dann ein "Wertstoffpark" ...
Der Psychologe Prof. Reiner Mausfeld (siehe online-Vorträge in Post #88) macht auf diese Techniken aufmerksam. Wer selber Geschichten verfaßt, kann diese Tricks und Kniffe einsetzen, um Informationen subtil zu vergeben. Dadurch sind diese Hinweise für das Publikum zwar anwesend, können jedoch bei der ersten Lektüre überlesen werden, um im Rückblick (oder bei der zweiten Lektüre) umso überzeugender zu wirken.

Die Sprachen der Welt unterscheiden sich voneinander, weshalb sich verwandte mit einiger Kombination entschlüsseln lassen. Trotzdem ist Vorsicht geboten, weil ähnlich klingende Worte manchmal etwas komplett anderes bedeuten können (dt. 'brav' vs. engl. 'brave' zum Beispiel).
In Grammatik und Syntax gibt es allerdings gewaltige Differenzen.
Jede hat ihre starken und ihre schwachen Seiten.
Natürlich spielt auch die Geschichte eine Rolle, düstere Epochen fordern Sprachkritik heraus - siehe Victor Klemperer, Karl Kraus und George Orwell.

Die empfohlenen Lektüren verstehe ich als Beispiele. Es steht euch frei, euch Titel oder Ausgaben zu suchen, die leichter lieferbar oder günstiger sind bzw. euch besser gefallen.
Hier eine kleine Liste zum Weiterlesen:
  • Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität, Kösel Verlag 1970, 347 Seiten (erstmals als Aufsätze erschienen, 1902-1907) - Gutenberg-DE
  • Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen – Lingua Tertii Imperii. Die Sprache des Dritten Reiches, Reclam Leipzig 1991, 303 Seiten (erstmals 1947)
  • George Orwell: "Appendix: The Principles of Newspeak", in: George Orwell: 1984, 68. Auflage, New American Library 1983, insgesamt 268 Seiten, hier S. 246-256 (diese Fassung enthält ein Vorwort von Walter Cronkite und ein Nachwort von Erich Fromm - erstmals 1949)
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Alt 05.08.2016, 18:07   #93  
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Standard Wortwahl, Wortwitz, Wortspiel

2006 habe ich in einer Lesung folgende Zeilen zum besten gegeben, die wenige Wochen bei einer Schreibübung (Thema: "Stein") den Weg aufs Papier gefunden haben:

Ein Stein
Einst Ein
Einstein


Damit das Stück wirkt, muß jede Silbe richtig betont werden. Dieses Beispiel zeigt, daß neben dem geschriebenen Text das Sprechen wichtig wird.
Für gewöhnlich sollte das Werk langsam, aber zügig vorgelesen werden.

Auf diese Weise bleibt das Publikum in der Geschichte bzw. im Werk und kann es genießen. Sich die Zeilen selbst laut vorzulesen, kann helfen, Schwächen oder Fehler aufzuspüren: beispielsweise wenn die Reihenfolge mehrerer Handlungen einer Figur den Lesefluß bremst, weil das Publikum das Geschehen nachträglich in Gedanken neu ordnen muß.
Ist das beabsichtigt? Oder muß das korrigiert werden?
Wie ihr die Frage beantwortet, hängt davon ab, was ihr mit eurem Werk erreichen wollt.

Klare Grenzen gibt es in der Literatur selten, und hier beginnt eine Grauzone, in der sich die Lesung zu verwandten Künsten öffnen: Poetry Slam, Spoken Word Performances, Monodramen (Ein-Personen-Stücke), Rap, Hip Hop und experimentelle Erkundungen der Sprache und des Sprechens.

Klassiker in diesem Bereichen sind zum Beispiel die Werke der Wiener Gruppe, deren berühmteste Vertreter wohl das Ehepaar Friedericke Mayröcker und Ernst Jandl sowie H.C. Artmann waren.
  • Ernst Jandl: schtzngrmm (Gedicht 1957)
  • Ernst Jandl: wien: heldenplatz (Gedicht 1962)
  • Ernst Jandl: ottos mops (Gedicht 1963)
  • Ernst Jandl und Friederike Mayröcker: Five Man Humanity / Fünf Mann Menschen (Hörspiel SWF 1968)
  • H.C. Artmann: Die Sonne war ein grünes Ei (Residenz Verlag 1982, Schöpfungsmythen)
Vorläufer finden sich in den künstlerischen Avantgarden nach dem (Ersten) Weltkrieg, in dem sich zum Dada und Surrealismus von den gewohnten Mustern der Sprache abkehrten, um das Trauma zu verarbeiten.
Kurt Schwitters' Ursonate oder Sonate in Urlauten (1923-1932, verschiedene Fassungen) erzeugt heute noch eine Gänsehaut.

Diese Methode wirkt wie ein Brennglas, unter dem Strukturen der Sprache hörbar und erkennbar werden, die im Alltag verborgen bleben.
Parodien, Pastiches und Hommagen ähneln Karikaturen, indem sie bestimmte Merkmale der Prosa oder Lyrik überspitzen und überdeutlich werden lassen.

Zum Weiterlesen empfehle ich:
  • Robert Neumann: Mit fremden Federn (Engelhorn 1927), 2 Bände, in denen hauptsächlich die Autoren der damaligen Gegenwart durch den Kakao gezogen werden. Das Spektrum reicht von Giganten der Hochkultur wie den Brüdern Heinrich und Thomas Mann über Bestsellerautoren wie Felix Salten und Hanns Heinz Ewers bis zu Sachbuchbestsellern wie Sigmund Freund und Friedrich Nietzsche.
  • Mechthilde Lichnowsky: Worte über Wörter (Berglandverlag 1949) - Lichnowsky steht in der Tradition ihres Landsmannes Karl Kraus. Ihre Glossen über die Sprache sind Zeitkapseln, die zeigen, wie sie die jeweilige Gegenwart in der Sprache spiegelt.
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Alt 09.08.2016, 16:25   #94  
Servalan
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Standard Die Geschichte des Buches in fünf Minuten

Julie Dreyfuss: The evolution of the book (TED-Ed Lessons)
Animationslehrfilm mit deutschen Untertiteln (4:17 min), Regie: Patrick Smith
http://ed.ted.com/lessons/the-evolut...reyfuss#review

Was macht ein Buch zum Buch? Was macht das Wesen eines Buches aus?
Julie Dreyfuss gibt einen Überblick über die Geschichte des gedruckten Mediums und beleuchtet schlaglichtartig Aspekte von beweglichen Lettern über den Datenträger (Holz, Pergament, Papier) bis zum Umschlag und zum Buchrücken.

Anregend.
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Alt 19.08.2016, 15:30   #95  
Servalan
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Standard Literarisches Schreiben studieren? Lohnt sich das?

Die meisten Verlage beklagen sich über unverlangt eingesandte Manuskripte.
Grundsätzlich sind die Plätze sind für belletristische Beiträge begrenzt, und wer veröffentlichen will, muß zunächst andere von seiner oder ihrer Qualität überzeugen. Das gelingt nicht immer.
Außerdem ist das Niveau mittlerweile recht hoch, weswegen auch hochwertige Manuskripte durch das Raster fallen. Es gibt eben weniger aussichtsreiche Plätze auf dem Buchmarkt als Kandidaten für den Slot.

Wer Tante G. suchen läßt oder sich durch Zeitschriften und Anthologien schmökert, stolpert früher oder später auf Anzeigen, in denen ein Fernstudium beworben wird. Mir kam diese aufdringliche Werbung immer suspekt vor, denn wenn die wirklich so gut gewesen wären, wie sie behaupten, hätten sie diese Masche nicht nötig gehabt. In dem Fall hätten sie nämlich mit den Namen derjenigen werben können, denen der Durchbruch zumindest zeitweise gelungen ist.

Im deutschsprachigen Raum gibt es einige feine Studiengänge, an denen literarisches Schreiben studiert werden kann (Universitäten Leipzig, Hildesheim, Wien und Bern). Manche der dort unterrichtenden Professoren wie zum Beispiel Hanns-Josef Ortheil sind gut im Literaturbetrieb verankert, und etliche der Studierenden ernten ihren Lorbeer bei renommierten Wettbewerben wie dem Open-Mike in Berlin oder dem Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt.
Ansonsten wird an Hochschulen Kreatives Schreiben gelehrt, damit wissenschaftliche Texte für ein interessiertes Publikum lesbar werden und bleiben - wie die Vorbilder aus dem angelsächsischen Unibetrieb.

Mein Studium der Neueren Deutschen Literatur (sprich nach Goethe) und Medien (also plus Kino und Fernsehen) hat mir in einigen Bereichen die Augen geöffnet. Das war allerdings ein Nebeneffekt. Dieses Fach kann auch jemand studieren, der keine Gedichte, Erzählungen oder Dramen verfaßt (das sind die meisten).

Wer wirklich mit Herzblut schreibt und von der Materie nicht lassen kann, hat heute eigentlich alle Mittel, um sich die Kenntnisse und Fähigkeiten selbst anzueignen. Allein dauert das natürlich länger als im Studium, und Tutoren oder Mentoren können über den einen oder anderen Frust weghelfen oder trösten. Aber sich selbst motivieren zu können, das ist unerläßlich.

Nach meiner Studienordnung mußte ich insgesamt drei Fächer belegen. Durch die Kombination ergänzten sich Methoden und Herangehensweisen, so daß sich ein größeres Ganzes ergab. Das Wissen aus dem einen Fach kommentiert das Wissen aus den beiden anderen.

Im Grunde beschränkt sich das Prinzip Literatur studieren auf folgende Punkte:
  • Verschaffe dir einen Überblick über das, was du tun willst. Was gibt es schon? Wie hat sich Literatur im Laufe der Geschichte gewandelt?
  • Blicke über den Tellerrand hinaus: Ohne gewisse geschichtliche Kenntnisse, lassen sich bestimmte Entwicklungen nicht verstehen. Wie ticken Menschen im allgemeinen? Wie verhalten sie sich in bestimmten Situationen?
  • Jeder Mensch hat bestimmte Neigungen. Such dir ein spezielles Thema heraus und arbeite dich in die Materie ein. Mach dich ein halbes Jahr zum Experten für eine bestimmte Fragestellung.
  • Eigne dir über drei bis fünf Jahre mindestens drei solcher Expertenthemen an. Bleibe dort auf dem Laufenden. Unterhalte dich mit Fachleuten, lies Fachliteratur und verfolge aufmerksam, wie sich das Fach verändert.
Diese selbstgestellte Aufgabe regt an, hält das Hirn jung und liefert en passant auch reichlich Ideen für Geschichten, die geschrieben werden wollen.

Geändert von Servalan (25.08.2016 um 21:21 Uhr)
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Alt 25.08.2016, 21:45   #96  
Servalan
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Standard Telekolleg Deutsch: Sprache, Literatur und Medien

Einen gewissen Einblick sollte das im Fach Deutsch gepaukte und erarbeitete Wissen geben, also einen groben Überblick über die Epochen der Literaturgeschichte, die Titel der wichtigsten Klassiker und ihre Verfasser und ähnliches.

Zu meiner Schulzeit führten andere Medien jenseits des Buches eher ein Schattendasein. Die einzige Ausnahme bildete das Theater des Sturm und Drang sowie die Klassik (das bürgerliches Trauerspiel war besonders beliebt).
Ich hoffe, da hat sich mittlerweile einiges getan. Meist reichen diese Grundlagen jedoch nur für eine Orientierung, die dabei helfen, am richtigen Ort nachzuschlagen und das Gewünschte rasch und zügig zu finden.

Wie sich der Buchmarkt mit den anderen Medien entwickelt hat, das dürfte Autoren in spe interessieren. In der Schule und auf der Universität spielt das eine geringere Rolle als in der Ausbildung des Buchhandels, des Bibliothekswesens und der Archive.
Die einzige Ausnahme bildete ein Seminar über Christian Heinrich Spieß' Erfolgroman aus der Goethezeit, Das Petermännchen (1791), den wir nach allen Regeln der Kunst genüßlich in seine Einzelteile zerlegt haben.

Deshalb halte ich es für ein Glücksfall, daß der Bayerische Rundfunk das gesamte Telekolleg Deutsch: Sprache, Literatur und Medien kostenlos bei vimeo online gestellt hat.
Das Telekolleg teilt sich in drei Trimester zu je 13 Folgen (jede dauert knapp 30 min) aus, insgesamt 39 Folgen (der Link führt jeweils auf die erste Folge des Trimesters):Die Sendereihe ist über zehn Jahre alt, deswegen bedeckt leichter Staub das, was damals als aktuellste Entwicklung gegolten hat.

Nichtsdestotrotz eignet sich das Telekolleg vorzüglich zum Auffrischen.

Geändert von Servalan (27.08.2016 um 16:48 Uhr)
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Alt 18.09.2016, 19:36   #97  
Hondo
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Zur Motivation: Ich denke viele Menschen erfinden gerne Geschichten, so haben ja unzählige Hobbyautoren über diese Selbstverlage beachtlichen Erfolg mit Regionalkrimis. Andere Menschen, so wie mir, tut es gut, selbst Erlebtes über ein Buch zu verarbeiten. "Wen interessiert schon eine einzelne Lebensgeschichte?" Sehr viele, wohlgemerkt! Durch mein Buch "Der schwarzen Wölfe Schrei" reflektierten sich schon einige Menschen und bestätigten mir, dass ihnen das Buch weitergeholfen hat, sich selbst zu erkennen. Bücher unterhalten, Bücher können helfen. Bücher können verändern. Menschen, unter Umständen die Welt. Und wie immer gilt: zum Bösen oder zum Guten!
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Alt 27.09.2016, 15:30   #98  
Servalan
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Standard J.R.R. Tolkien, ein Meister der Sprache

Einige der interessantesten und anspruchsvollsten kurzen Werke habe ich bei Lesungen von Amateuren gehört, die Belletristik teilweise therapeutisch für sich genutzt haben. Es tat gut, etwas zu schreiben. Es tat gut, die eigene Schöpfung vor Publikum zu lesen.

Dieser scheinbar mindere Status sollte nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass diese Autoren ohne Zertifikat oder anderen Nachweis häufig harte Ansprüche an sich stellen.
Sprache kann sich leicht in ein mehrdimensionales Labyrinth verwandeln, in dem sich Autoren verirren und verlaufen können. Denn die Arbeit an der Sprache und mit der Sprache erfordert einen hohen Einsatz, er kostet nämlich eine Menge Zeit, Schweiß und häufig auch Tränen - bis etwas wirklich als gelungen empfunden wird. Erst dann kann es abgeschlossen werden.

Wer heute ein Publikum finden will, muß seine Erzählstimme gestalten und sie mit der Figurenperspektive abstimmen. Wehe, alle Figuren hören sich gleich an; und wenn sie fadenscheinige Meinungen des Autors predigen, landet das Manuskript im Altpapier.

William Morris (1834-1896) wollte zunächst Priester werden, bevor er das künstlerische Leben nicht nur in Großbritannien prägte. Morris hatte wie Wagner (mit seinem Gesamtkunstwerk) einen breiten Kunstbegriff, der alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs erfaßte - ein Vorläufer von Art Déco, Jugendstil, Bauhaus und dem modernen Design. Deswegen zählt er zu den Gründern der Arts and Craft Bewegung, die handwerkliche Fähigkeiten über alles schätzte, wobei er stark von sozialistischen Ideen beeinflußt wurde.

Wenig verwunderlich hinterließ er ein breites schriftstellerisches Werk. Darunter befinden sich zwei Romane, A Tale of the House of the Wolfings, and All the Kindreds of the Mark Written in Prose and in Verse (1889) und The Roots of the Mountains (1890), in denen er das Leben eines bronzezeitlichen Stammes in Europa schildert, der sich das Römische Imperium wehrt.
Perry beschreibt in seinem Vorwort, wie Morris sich über Brief eines zeitgnössischen Archäologen mokiert, der Morris für seine Schilderung in den höchsten Tönen lobt und ihm weismachen will, exakt so wäre das Leben in der Bronzezeit gewesen. Morris kann über die schreckliche Naivität des Wissenschaftlers bloß schmunzeln, weshalb er ihm sinngemäß antwortet: "Hallo, aufwachen! Ich habe mir das bloß ausgedacht. Gut, du bist auf meine Fiktion hereingefallen. Aber ich weiß nicht, wie das damals gewesen ist!"

Morris gehört zu den Vorbildern von C.S. Lewis und J.R.R. Tolkien.
Aragorn und die Reiter von Rohan verdanken den germanischen Kriegern von Morris allerhand.
Weil die Gestaltung eines Stoffes unheimlich wichtig sind, können über einem Manuskript leicht zehn oder mehr Jahre ins Land gehen.
Ich bin zwar kein Tolkien-Hardcore-Fan, dennoch schätze ich ihn. Seine fundierte Kenntnis von Geschichte und Mythen kommt nicht von ungefähr. Doch seine Vorlesungen zeigen, was für eine Mühe es ihn gekostet hat, so leicht lesbar zu werden. Die einzelnen Vorträge aus verschiedenen Teilen seiner akademischen Karriere belegen, wie sich seine Sprache unterderhand wandelt.

Obwohl seine Antrittsvorlesung nur schriftlich vorliegt, zeigt sie, wie nervös er er gewesen sein muß und daß er bloß nichts falsch machen wollte. Deshalb wirken manche Erklärungen und Erläuterungen recht unbeholfen und sind für Laien nur mit Mühe verständlich. Tolkien wurde in den Kreis der Experten aufgenommen, indem die Fachsprache der Experten sorgfältig nutzte.
Je älter Tolkien wird, umso fester sitzt er im Sattel. Er kennt seinen Stoff inzwischen gut genug, weshalb er freier formulieren kann. Wenn Tolkien zur Höchstform aufläuft, kann er sogar mit einem Fachvortrag ein Publikum aus gewöhnlichen Menschen begeistern und für sein Wissen interessieren.
Sein Wissen ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

Zur Illustration ein Beispiel aus Der Herr der Ringe:
Im Original warnt Sam Frodo vor ihrem Begleiter Gollum, indem er sagt: "He's a villain." Klar, natürlich ist Gollum ein Bösewicht.
Tolkien schafft in seiner High Fantasy einen Gründermythos des neuzeitlichen England, wobei er sich auf die Herrschaft von Queen Elizabeth I. (1533-1603) bezieht. Im Englisch dieser älteren Sprachstufe bedeutet "villain" jedoch auch "Diener".
In Sams Warnung schwingt also untergründig die Warnung mit, dass Gollum ein Diener des Rings geworden ist, ein Diener Saurons, ein Diener des Bösen schlechthin.
Dieser Sachverhalt wird später wichtig, wenn Sam in Mordor fragt, ob er auch mal den Ring tragen dürfte. Schon der bloß am Faden baumelnde Ring am Sams Brust ist gefährlich, weil er seinen Träger sogar in dieser Lage verführen kann.
  • J.R.R. Tolkien: The Monster and the Critics and Other Essays [The Essays of J.R.R Tolkien], hrsg. von Christopher Tolkien, 10. Auflage, Harper Collins Publishers 2006 [erstmals Allen & Unwin 1983]
  • Michael W. Perry: "Foreword: William Morris and J.R.R. Tolkien", in: William Morris: The House of the Wolfings. A Book that Inspired Tolkien, Inkling Books 2003, hier S. 7-12

Geändert von Servalan (29.10.2016 um 16:34 Uhr)
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Alt 04.11.2016, 16:49   #99  
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Standard Zwei Vorträge von Aleida und Jan Assmann

Auch wenn die mitgezeichneten Vorträge und Vorlesungen nicht direkt etwas mit Schreiben und Veröffentlichen zu tun, möchte ich dennoch auf sie hinweisen.
In den beiden Videos geht es um die Themen Sprechen, Schreiben und Schrift (Jan Assmann) sowie um den komplexen Vorgang des Erinnerns und Vergessens (Aleida Assmann).

Geschriebene Geschichten und Texte müssen irgendwie präsentiert werden.
Dadurch wird die Schrift auf eine bestimmte Weise geordnet und es ergibt sich ein Schriftbild (Layout). Hinzu kommen noch verschiedene Schriftsysteme, so dass die Sache für Laien ziemlich unübersichtlich werden.
Im Rahmen der Vorlesungsreihe Iconic Turn der Felix Burda Memorial Lectures (Hubert Burda Stiftung) referierte der Kulturwissenschafter Jan Assmann über die Entstehung der Schrift:

Prof. Dr. Jan Assmann: Frühzeit des Bildes - Der Iconic Turn im Alten Ägypten
https://www.youtube.com/watch?v=-TGTN4NFYWw (2:04 Stunden)


Zu verschiedenen Zeitpunkten und unter verschiedenen Zeitpunkten erinnern und vergessen Menschen etwas anderes.
Dieser dynamische Prozess erstreckt sich natürlich ebenfalls auf höhere Ebenen, also auf Gruppen und Gesellschaften. Biographie und historische Erinnerung / Vergessen verknoten sich zun einem unauflösbaren Zopf.

Stiftung Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur. Vorlesungsreihe 2015
Stiftungsprofessur 2015: Aleida Assmann: Formen des Vergessens (Johannes Gutenberg Universität Mainz 30.06.2015)
https://www.youtube.com/watch?v=TSsmErEUwEk (59 min)

Geändert von Servalan (30.12.2016 um 17:45 Uhr)
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Alt 30.12.2016, 18:27   #100  
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Standard Wachstumsschmerzen?

Zwar gibt es in der Literargeschichte etliche Autoren von Weltrang, die sich fast auschließlich auf kürzere Formen beschränkt und es darin zur Meisterschaft gebracht haben, meist ließ sich jedoch kein Blumentopf gewinnen.
Publikum und Verlage bevorzugen Romane, durch die sich ein Autor zur eigenen Marke entwickeln kann. Romane werden am häufigsten besprochen, und die Preisgelder sind relativ üppig, so daß etwas übrig bleibt.

Allerdings schreiben sich Romane nicht von selbst.
Sie verlange eine trainierte Kondition wie im Spitzensport, weil ein gewisses sprachliches Niveau über mehrere Wochen, Monate und manchmal Jahre durchgehalten werden müssem. Das muß um eine traumwandlerische Präzision ergänzt werden, die Sachverhalte auf den Punkt bringt, die Spannung hält und den gewünschten Effekt (häufig Identifikation mit der Hauptfigur) beim Publikum erzielt.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich an die anspruchsvollen Formate heranzutasten: Gelungene Figuren aus einer Kurzgeschichte, können in einer anderen aufgegriffen werden. Mehrere Kurzgeschichten können durch einen bestimmten Rhythmus (zum Beispiel Feiertage oder Geburt-Hochzeit-Tod) zu einer Einheit verklammert werden.
Solange die erzählerischen Kapitel für sich allein stehen können, machen sie keine Probleme. Bei einer komplexen Novelle oder längeren Erzählung wird das schon schwieriger. Für Lesungen oder (Vor-) Veröffentlichungen müssen gewisse Passagen ausgewählt werden, die ähnlich wie Kurzgeschichten funktionieren.

Wer sich die Länge erobert, ohne Verpflichtungen wie Lesungen zu haben, muß bloß aufpassen, dem Zugang zum Stoff des Manuskripts nicht zu verlieren.
Je dichter der Terminkalender mit Auftritten gepflastert ist, desto eher können Probleme auftauchen. Besonders am Anfang verlangen längere Manuskripte die ungeteilte Aufmerksamkeit der oder des Schreibenden.

Bei mir waren das zum Beispiel acht bis zwölf Normseiten, für die beim ersten Anlauf ein ganzes Jahr gebraucht habe. Zwei oder drei Jahre später habe ich für achtzig Normseiten immer noch ein halbes Jahr Blut und Wasser geschwitzt. Nach vier oder fünf Jahren hatte ich mich freigeschrieben, und die Länge war kein Hindernis mehr.

Teilweise überschnitt sich die letzte Phase mit meiner ersten Hochphase, in der ich teilweise jeden Monat einen Auftritt hatte. Mein Publikum dort konnte ich nicht vertrösten: "Mein Kopf ist dicht, deshalb habe ich keine neuen Texte." Damit hätte ich das Publikum verprellt.
Also brauchte ich kreative Lösungen für frische kurze Belletristik.

In einem Notizbuch (oder Blog) habe ich knackige Oneliner gesammelt. Allerdings eignen sich die nur für die letzte Zugabe.
Mit den Miniaturen am Seitenrand sollten sich über mittlere Sicht schon einige Minuten füllen lassen. Wer aus der Lyrik kommt, dürfte sicher im Vorteil sein.

Ich habe meine Verlegenheit mit einer Schreibübung kombiniert.
Gerade bei längeren Texten sollten Satzbau, Sprachstil und Rhythmus variiert werden: Wiederholungen dürfen zwar vorkommen, sie sollten aber einen Zweck erfüllen (simpler oder cholerischer Charakter, verfahrene Situation ...).

Deshalb habe ich versucht, Stories auf einen Absatz zu konzentrieren.
Beim dritten oder vierten Mal habe ich den Schwierigkeitsgrad erhöht: Das Geschehen mußte sich zu einem einzigen Satz verdichten. Durch Nebensätze, Appositionen und andere Einschübe, habe ich die drei bis fünf Zeilen inszeniert und dramatisiert.
Wann erfährt das Publikum welchen Sachverhalt? Worin liegt die Pointe? Welche Perspektive beleuchtet das Geschehen am besten?
(Einige meiner Fotoalbum-Episoden wurden gedruckt oder fanden bei Lesungen ihr Publikum.)

Was bei euch am besten funktioniert, müsst ihr selbst herausfinden.
Wichtig ist nur, immer Material für Lesungen oder Einsendungen in petto zu haben.
Wehe, ihr werdet kalt erwischt. Das könnte nämlich peinlich werden.
Deshalb gilt hier der Spruch der Pfadfinder: "Be prepared! - Seid bereit!"
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