Thema: Filmklassiker
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Alt 22.01.2024, 10:50   #1859  
Phantom
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Dazu passt ein Stummfilm, den ich am Wochenende gesehen habe: "The Patsy" (1928), King Vidors nächster Film.

Die Schauspielerin Marion Davies war die Lebensgefährtin von William Randolph Hearst, dem Zeitungszar, der von Orson Welles kaum verfremdet in Citizen Kane porträtiert wurde. Hearst war verheiratet (und blieb es bis zu seinem Tod) und schon über 50, als er die damals 19jährige Davies kennenlernte. Er machte es sich dann zur Aufgabe, die Karriere seiner Geliebten zu fördern, u.a. mit positiven Kritiken in seinen Zeitungen und Rundfunkanstalten sowie durch Finanzierung von (aus seiner Sicht) geeigneten Filmen.

Davies war talentiert und in ihrer Zeit (vor allem in der Stummfilm-Ära) ein großer Star, der auch in nicht von Hearst kontrollierten Zeitungen gelobt wurde. Leider hinterließ Citizen Kane bei Leuten, die diese Zeit nicht erlebt haben, ein falsches Bild von Marion Davies. In Citizen Kane ist die Geliebte von Kane/Hearst eine völlig untalentierte Sängerin, die zum Star aufgebaut werden soll (Kane baut ihr ein eigenes Opernhaus), obwohl ja jeder sehen und hören kann, dass die Kaiserin keine Kleider anhat; am Ende wird Kane von ihr verlassen und stirbt vereinsamt in Xanadu. Mit Davies hat das nicht viel zu tun; Marion Davies hätte es vielleicht auch ohne Hearst zum Star geschafft, genug Talent hatte sie jedenfalls. Und sie ist bis zum seinem Tod, also über 30 Jahre lang, bei Hearst geblieben.

Im Vorwort zur posthum erschienenen Autobiografie von Davies schreibt Orson Welles, dass er Davies in Citizen Kane nicht porträtieren wollte. Na ja, ob man ihm das glauben kann? Ich bin ja bei Vorworten schon grundsätzlich skeptisch; wer weiß, ob das überhaupt wirklich von Welles geschrieben wurde. Und selbst wenn, hätte er Jahrzehnte später und nach Davies' Tod kaum zugegeben, dass ihm damals vielleicht egal gewesen war, ob er Davies Unrecht getan hatte.

Zurück zu "The Patsy". Es ist eine Komödie voll Situationskomik, die Story ist eher nebensächlich. Davies ist in den Freund ihrer Schwester (gespielt von Orville Caldwell) verliebt und schmachtet ihn bei jeder Gelegenheit an; er nimmt sie aber kaum wahr, zumindest nicht als Frau. Auch die strenge Mutter (Marie Dressler mit wunderbarer Mimik) tut alles, um Davies vom geplanten Ehemann der Lieblingstochter fernzuhalten. Davies bekommt von Caldwell, den sie um Rat wegen ihrer unerfüllten Liebe fragt (ohne dass er weiß, dass es eigentlich um ihn geht), den Tipp, sich eine "personality" zuzulegen. Das macht Davies, indem sie fortan schlaue Sprüche aus Büchern zitiert, was bei der Familie den Eindruck erweckt, sie wäre verrückt geworden. (Ein Spruch, an den ich mich erinnere: "work is the curse of the drinking class"; stammt, wie mir das Internet erzählt, von Oscar Wilde, als Abwandlung von "drink is the curse of the working class".) Zwischendurch parodiert Davies noch ein paar Stummfilm-Kolleginnen, zum Beispiel Pola Negri, und am Ende schafft sie es tatsächlich, das Subjekt ihrer Begierde für sich zu gewinnen.

Ein lustiger Film, vor allem, wenn man ihn (wie ich) im Kino mit Live-Klavierbegleitung erleben kann.
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