Thema: Filmklassiker
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Alt 22.01.2024, 06:11   #1858  
Peter L. Opmann
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Noch ein etwas problematischer Stummfilm: „Ein Mensch der Masse“ (1928) von King Vidor. Ein Film, der gewissermaßen auf eine Handlung verzichtet und bei Erscheinen deshalb umstritten war. Heute ist er als Meisterwerk anerkannt. Für mich stellt sich trotzdem die Frage: Kann man in einem kommerziellen System einen Film machen, der im wesentlichen nur Alltag zu bieten hat? Und der nebenbei den amerikanischen Traum in Frage stellt? Vidor war wohl der erste, der so etwas wagte, aber es ist zumindest fraglich, ob man so ein Projekt öfters wiederholen kann. Ein Theoretiker hat mal behauptet, daß am Anfang der Filmkunst zwei Konzepte standen: der Realismus von Lumiere und der Illusionismus von Melies. Durchgesetzt hat sich der Illusionismus. Realismus im Film lebt hauptsächlich im Dokumentarfilm fort, aber wann wird ein Dokumentarfilm schon einmal ein Blockbuster?

Vidor arbeitete größtenteils mit unbekannten oder gar Laienschauspielern; Ausnahme war seine Frau, Eleanor Boardman, die zu dieser Zeit ein Star war. Was er in immerhin eindreiviertel Stunden erzählt, ist das Leben eines Durchschnittsamerikaners (James Murray), der nach New York kommt, um sein Glück zu machen, aber es nur zu einem schlecht bezahlten und völlig unbedeutenden Bürojob bringt. An einem der seltenen Abende, an dem er mit einem Freund ausgeht, lernt er seine Frau (Boardman) kennen, heiratet sie und bekommt mit ihr zwei Kinder. Seine kleine Tochter kommt bei einem Unfall ums Leben, und das wirft ihn so aus der Bahn, daß er seinen Job verliert und es nicht schafft, einen neuen zu finden. Die Familie seiner Frau, die sich immer nur für seinen beruflichen Aufstieg und den Umfang seiner Lohntüte interessiert hat, will sie von ihm wegbringen, aber im letzten Moment wird er als Werbeclown engagiert und rettet zumindest sein Familienglück.

Wenn man bedenkt, daß in fast allen Filmen sich ein Held gegen alle Widerstände durchsetzt, ist das eine ziemlich gewagte Story. Außerdem inszeniert sie Vidor überhaupt nicht langweilig. Die erste Filmhälfte hat mich an „Menschen am Sonntag“ erinnert (ein Film, der vielleicht von „Ein Mensch der Masse“ inspiriert war); danach wird er ein wenig zu einem Melodram. Vidor deutet den Abstieg von Murray zu einem Dropout der Gesellschaft an. Die meisten Leute denken ja, daß manche Menschen einfach unfähig sind, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. In Wirklichkeit steckt hinter Armut und Obdachlosigkeit meist ein Schicksalsschlag, den der Betreffende nicht verkraftet hat. Frappierenderweise erlebte das der Schauspieler Murray Anfang der 1930er Jahre selbst, als er alkoholsüchtig wurde, keine Rollen mehr bekam und schließlich in der Gosse starb.

Wie Martin Scorsese in „Mythos Hollywood“ erwähnte, bekam Vidor grünes Licht für diesen Film, weil er zuvor einen der größten Kassenschlager der Stummfilmzeit, „The Big Parade“, gedreht hatte. Die Bosse der MGM mochten sein Herzensprojekt (seine eigene Berufslaufbahn war ähnlich verlaufen) jedoch von Anfang an nicht. Trotzdem war er, anders als an manchen Stellen zu lesen, kein Flop, sondern erzielte einen, wenn auch keinen außerordentlichen Gewinn. Man kann ihn sich gut ansehen: Das Leben eines kleinen Angestellten wird zunächst mit leiser Ironie, dann dramatisch bewegt dargestellt. Das ist durchaus unterhaltsam gemacht. Nur ist an der Geschichte (fast) nichts Ungewöhnliches. „Ein Mensch der Masse“ bestätigt indirekt die Strategie Hollywoods, auf spannende Genrestoffe zu setzen sowie auf erstaunliche Plots, Überraschungsmomente und die Überwältigung durch Actioneffekte – oder große Gefühle.

Ich würde freilich sagen, Hollywood hat nie völlig auf Realismus verzichtet. Ein Kino als reine Illusionsmaschine, wie es etwa Josef von Sternberg verstand, ist das andere Extrem und wäre vermutlich stetig wiederholt auch eintönig geworden. „Ein Mensch der Masse“ wird allerdings nicht deshalb als bedeutend betrachtet, weil der Film geschickt eine Durchschnittsexistenz schildert, sondern weil Vidor der Vorstellung, jeder (Amerikaner) könne es mit genug Fleiß und vielleicht ein bißchen Glück schaffen, eine klare Absage erteilt. Er zeigt zwar konsequent ein Einzelschicksal, macht aber an vielen Stellen deutlich (etwa durch das riesige Großraumbüro, in dem Murray arbeitet, oder viele Straßenszenen, die damals noch mit echten Passanten gedreht werden konnten), daß es so wie ihm Millionen Amerikanern ergeht, jedenfalls in den großen Städten. Das ist übrigens eine unterschwellige Botschaft, die in „Menschen am Sonntag“ völlig fehlt.
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