Thema: Filmklassiker
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Alt 01.04.2024, 06:25   #1996  
Peter L. Opmann
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Zwei Dinge vorweg, bevor ich mich dem „Glöckner“ von 1956 zuwende. Die Länge des Films wird unterschiedlich angegeben. Laut wikipedia ist er 115 Minuten lang, gemäß dem Lexikon des Internationalen Films 105 Minuten – der Film, der damals bei Vox lief, hatte nur 95 Minuten (ohne Werbung). Eine Szene fehlt auffällig: Quasimodo wird ausgepeitscht, aber man erfährt erst hinterher durch ein beiläufiges Gespräch, daß er Esmeralda angegriffen hatte (um sie für seinen Herrn Frollo zu entführen). Ein zweites Manko: Es wird starr der Mittelteil des Cinemascope-Formats wiedergegeben. Was am Rand des Bildes geschieht, ist nie zu sehen, auch wenn da etwa jemand spricht. Ich habe es hier offenbar nicht mit dem bestmöglichen Material zu tun.

Es scheint, als würde Delannoys Film den von Dieterle voraussetzen. Er konzentriert sich wesentlich stärker auf die zentralen Figuren Frollo, Quasimodo, Phoebus, Gringoire und Esmeralda. Es gibt zwar auch ein paar opulente Straßenszenen, aber der Epochenwandel ist im Gegensatz zur Dieterle-Fassung so gut wie kein Thema. König Ludwig XI. hat dementsprechend nur ein paar kurze Auftritte. Allerdings kommen durch die Straffung der Handlung die Beziehungen zwischen den Hauptfiguren besser heraus. Und ich finde, Anthony Quinn und Gina Lollobrigida stehen in ihrer Darstellung den Vorbildern Charles Laughton und Maureen O’Hara nicht nach. Die Lollo kommt „zigeunerischer“ rüber. Ihre erotische Ausstrahlung ist stärker. Und sie ist eine Frau von schwankenden Gefühlen. O’Hara war, wenn man so will, gesitteter, gretchen-hafter. Quinns Quasimodo hat ein paar beeindruckende akrobatische Auftritte. Er turnt sehr geschickt an der Fassade der Kathedrale herum. Die mißverstandene Kreatur gibt er ebenso überzeugend wie Laughton. Frollo (Alain Cuny) und Phoebus (Jean Danet) sind dagegen schwächer als in der 1939er Version. Gringoire (Robert Hirsch) ist eher als komische Figur angelegt. Undenkbar, daß er zur wahren Liebe von Esmeralda avancieren könnte. So erscheint hier das richtige Romanende, der Tod Esmeraldas und Quasimodos, folgerichtiger.

Der „Glöckner“ von 1956 ist eher zum Melodram geraten, das zufällig im 15. Jahrhundert spielt. Die dramatische Tiefe des Dieterle-Films fehlt ihm weitgehend. Oder man kann sie sich dazudenken, wenn man den „Glöckner“ von 1939 ebenfalls kennt. Am Drehbuch ist wiederum ein klangvoller Name beteiligt: Jacques Prevert. Ein Minuspunkt des Films ist sicher, daß die Gerichtsverhandlung gegen Esmeralda knapp und eher nebenbei abgehandelt wird. Die Folterung Esmeraldas fehlt (vielleicht gekürzt). Frollo wird nicht als wahrer Mörder enttarnt – er offenbart sich lediglich Quasimodo. Der Sturm der Bettler auf die Kathedrale Notre Dame erscheint nicht so recht motiviert (warum setzen sie sich so sehr für das Kirchenasyl ein?). Durch das Breitwandformat und die intensive Farbigkeit sowie die guten Schauspielerleistungen ist dieser Film meiner Ansicht nach trotzdem ebenso sehenswert wie der ältere. Man müßte sich allerdings mal die vollständige Fassung ansehen, um ihn richtig würdigen zu können. Die katholische Filmkommission hatte sich übrigens 1956 kritisch geäußert: „Oft im Widerspruch zu den Geboten des guten Geschmacks. Auch die Unernsthaftigkeit der religiösen Szenen ist zu bedauern.“ Dieser Passus wurde allerdings in späteren Auflagen gestrichen.
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