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Alt 24.10.2017, 17:58   #3863  
Peter L. Opmann
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Woher kennst Du die Lage von Latveria?

Der zweite Teil der Doom-Story, muß ich zugeben, hat was. Die Hilflosigkeit der FV in ihrem goldenen Käfig kommt jetzt kräftig zum Ausdruck. Dies ist sicherlich eine ungewöhnliche Superhelden-Geschichte; es kommt schon mal vor, daß einem Held seine Superkräfte abhanden kommen, aber Dr. Dooms Plan, daß das Quartett (mit Crystal statt der Unsichtbaren) in seinem Terrorstaat Latveria ein angenehmes Leben führen soll – nur, daß sie keine Chance haben, sich jemals irgendwie gegen den Herrscher aufzulehnen und aus seinem Einflußbereich zu fliehen, der erscheint mir doch recht originell. Es ist eine Geschichte über die Freiheit. Was im ersten Teil angedeutet wurde, wird hier richtig ausgeführt. Bis zum Ende dieser Episode machen die FV noch keinen Stich gegen Doom.

Reed hat versucht, die Grenze von Latveria einfach zu überschreiten und ist auf eine unsichtbare Barriere gestoßen. Dooms Roboterpolizei hindert die FV nun an weiteren Versuchen. Ding wird, da seiner Riesenkraft beraubt, mit einem Betäubungsgewehr zu Boden geschickt. Die Vier begeben sich zurück in die Stadt; Reed denkt darüber nach, wie sie aus ihrer beklagenswerten Lage wieder herauskommen und zugleich den S.H.I.E.L.D.-Auftrag erfüllen können, Dooms Roboterarmee zu stoppen, aber noch fällt ihm nichts ein.

Doom treibt inzwischen seine Aufrüstung mit Super-Robotern voran. Hier wird eine interessante Nebenfigur namens „Hauptmann“ eingeführt, ein Assistent, der so intelligent erscheint, daß man sich fragt, ob er nicht auch Ambitionen hat, aus diesem Unterdrückungsstaat abzuhauen. Andererseits wirkt er wie ein Nazi-Scherge – Doom deutet einmal an, daß er womöglich einst in Hitlers Diensten stand. Er zeigt ihm gegenüber sein wahres Gesicht: Statt Milde zu üben (seine bevorzugte Pose gegenüber seinen wehrlosen Untertanen), behandelt er ihn mit größter Herablassung. Was die Nazis nicht zuwegebrachten, nämlich die ganze Welt ihrer Ideologie zu unterwerfen, soll ihm nun gelingen. Zwei renitente Untertanen, die an Kirbysche Gangster erinnern, werden nun, ohne es selbst zu ahnen, in einem Experiment eingesetzt: Doom läßt sie zum Schein fliehen; sie besteigen einen gewaltigen Panzer, werden aber samt dieser Maschine von einem neuartigen, unzerstörbar erscheinenden Roboter vernichtet.

Die FV sind der Einladung gefolgt, ein Mittagessen einzunehmen. Ihnen wird ein exquisites Mahl serviert. Doch auch das ist eine Falle Dooms: Mit dem Essen nehmen sie ein Betäubungsmittel zu sich und fallen in tiefen Schlaf. Doom kann sie nun weiter durch Hypnose manipulieren. Ihr Charakter wird dabei völlig umgeformt. Nachdem sie ihre Superkräfte nicht mehr anwenden können, wird ihnen nun ein Ekel vor jeder Gewaltanwendung eingepflanzt.

Eingestreut wird eine nette Szene, in der Doom sich einer Sitzung unterzieht, damit ein Maler ein prunkvolles Porträt von ihm anfertigen kann – und zwar ohne Maske. Als Weltherrscher will Doom sein entstelltes Gesicht zeigen (der Leser sieht es allerdings vorläufig noch nicht). Wenn er erstmal Weltherrscher ist, wird es niemanden mehr geben, der einen Abscheu davor zum Ausdruck bringen kann. Doom hat, typisch Despot, keine Geduld. Der Maler läßt vorsichtig anklingen, daß er ihm für ein gelungenes Bild die Freiheit versprochen hat, aber Doom hat überhaupt keine Lust, an irgendein Versprechen erinnert zu werden.

Und auch die junge Mutter Sue Richards hat noch einen kurzen Auftritt. Sie sucht nach einem neuen Heim für ihre Familie, das natürlich im Fall der FV besonderen Anforderungen entsprechen muß. Nach langer Suche stößt sie auf ein eigentümliches Haus, das fast vollständig in die Erde eingegraben ist; nur das Dach ragt heraus. Diese Immobilie erfüllt endlich ihre Ansprüche. Wenn ich mich recht erinnere, wird sich auch dieses Haus im nächsten Zweiteiler als eine Falle herausstellen.

Ich muß betonen: Wenn es in der US-Ausgabe Anspielungen auf das Dritte Reich geben sollte, dann sind sie in der deutschen Fassung entfernt worden. Was läßt sich vom Hintergrund dieser Story ablesen? Ich habe den Eindruck, Lee und Kirby bringen noch ein weiteres Motiv ins Spiel: den Kontrast der freien USA mit dem alten Europa. Latveria erscheint ein wenig wie ein typischer europäischer Staat, oberflächlich betrachtet auch Teil der freien Welt, aber im Hintergrund zieht ein furchtbarer Tyrann die Fäden. Sei es Deutschland, sei es der Ostblock oder seien es andere Staaten, von denen ein Durchschnittsamerikaner vielleicht noch nie gehört hat, überall lauert hinter der pittoresken Touristen-Fassade ein totalitäres Regime. Wahre Freiheit, so wird vermittelt, gibt es nur in Amerika. Hier meine ich die Weltsicht von Jack Kirby zu erkennen, der sich schon früh gegen Hitler stark gemacht hat, aktiv am Zweiten Weltkrieg in Europa teilnahm und dessen Ansichten auch in vielen Kriegscomics zur Geltung kamen.

Zu dieser unterschwellig politischen Story paßt die Leserbriefseite dieser Ausgabe. Leser nehmen zum „Fall Roter Wächter“ Stellung, eine Rächer-Story, die auf ungute Weise den Kalten Krieg thematisierte. Reiner Schmitz gibt da einen auch auf die FV passenden Kommentar ab: „Lachhaft sind dagegen die deutschfeindlichen Zeichnungen (hauptsächlich von Jack Kirby). Jedesmal, wenn ein Verrückter die Welt erobern will, benutzt er ein beachtliches Kontingent an finster dreinblickenden Typen mit Wehrmachtsstahlhelmen. Intelligente Bemerkungen wie, daß die Nazis auch gegen Atlantis marschieren wollten (Spinne 62, S. 30), sind keine Seltenheit. Daß wir Deutschen in den 60er Jahren kein aktueller Feind mehr waren, scheinen die Amis doch nicht ganz mitgekriegt zu haben.“ Insgesamt werden Comics als Unterhaltung angesehen; ob ein bißchen Politik dabei seinen Platz oder aber nichts zu suchen hat, ist umstritten. Einen Brief steuert übrigens auch wieder Gerhard Förster bei.

Geändert von Peter L. Opmann (25.10.2017 um 22:15 Uhr)
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