Thema: Filmklassiker
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Alt 06.09.2023, 06:34   #1542  
Peter L. Opmann
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Hier habe ich eine etwas ungewöhnliche Videoaufnahme. Die Ansagerin (sowas gab es früher) erklärt, der Bayerische Rundfunk habe anläßlich des Todes von Frank Capra sein Programm geändert. In deutscher Erstaufführung werde „Lady für einen Tag“ (1933) gezeigt, und der angekündigte Film, „Ein ausgekochtes Schlitzohr“, werde zu einem späteren Zeitpunkt gesendet. Capra starb am 3. September 1991. Aufgezeichnet habe ich „Lady für einen Tag“ demnach wohl am 4. oder 5. September. Laut wikipedia wurde die Komödie 1993 erstmals im deutschen Fernsehen gezeigt, was also nicht stimmen kann. Capra hat in diesem Fall selbst ein Remake gedreht, „Die unteren Zehntausend“ (1961); damit befasse ich mich beim nächsten Mal. Obwohl das Remake ein All-Star-Movie war mit Bette Davis, Glenn Ford, Peter Falk, Thomas Mitchell und Ann-Margaret, hat mir damals die Originalversion besser gefallen.

„Lady for a Day“ war Capras erster größerer Erfolg. Er war dafür gezielt von der Columbia geholt worden, die damals ein kleineres Hollywood-Studio war – Columbia gehörte nicht zu den „big five“. Dieser Film bietet die typische naive Capra-Sozialromantik, hat mich aber wegen seiner skurrilen Figuren angesprochen. May Robson schlägt sich am Broadway mit dem Verkauf von Äpfeln durch. Sie ist Alkoholikerin, zerlumpt und faktisch eine Bettlerin. Für ihre Tochter in Europa (Jean Parker) hält sie jedoch die Illusion aufrecht, sie sei eine Dame der besseren New Yorker Gesellschaft. Der Portier eines Nobelhotels beschafft für sie Briefpapier mit Hotel-Aufdruck und gibt die Briefe auf, in denen Robson ihrer Tochter erzählt, an welchen gesellschaftlichen Anlässen sie angeblich wieder teilgenommen hat. Dann passieren aber zwei Katastrophen: Der Portier wird erwischt und gefeuert, und Parker teilt ihrer Mutter mit, sie sei unterwegs, um sie mit ihrem Bräutigam und dessen Vater, einem spanischen Adligen, in NY zu besuchen. Der Schwindel droht aufzufliegen.

Robson ist verzweifelt, bekommt aber von unerwarteter Seite Hilfe: Warren William, der König der Unterwelt, der sich einbildet, daß ihre Äpfel ihm stets Glück bringen, quartiert sie zum Dank im Hotel ein, macht eine feine Dame aus ihr und verpflichtet die Gang, die er befehligt, für den Besuch der Tochter eine Gruppe von Honoratioren zu mimen (wofür sie tüchtig üben müssen). Federführend dabei sind ein „Richter“ (Guy Kibbee), der in Wirklichkeit ein Billardkönig ist, und eine Nachtclubsängerin (Glenda Farrell). Ein paar Gesellschaftsreporter wittern den Betrug, aber werden von den Gangstern aus dem Verkehr gezogen und weggesperrt. Das ruft allerdings die Polizei auf den Plan. Der Bürgermeister und der Gouverneur – selbst von wohlwollender Presse abhängig – machen Druck, und so sieht sich William schließlich gezwungen, den Polizeipräsidenten in den Mummenschanz einzuweihen. Darauf lassen sich Gouverneur und Bürgermeister anrühren und kommen höchstpersönlich zu dem „Empfang“, den Robson im Nobelhotel gibt – zur Verblüffung der spanischen Gäste.

Die Geschichte ist zugegeben nicht sehr raffiniert. Der Film lebt von den originellen und durchweg gut gespielten Figuren. Für Columbia war dieser Stoff vermutlich genau das Richtige, denn man brauchte keine teuren jugendlichen Stars. Die Hauptfiguren werden von typischen Nebenrollen-Darstellern gespielt – Guy Kibbee habe ich zum Beispiel erst kürzlich als Richter in „Spuren im Sand“ gesehen. Mir fällt auf Anhieb kein Film ein, in dem eine alte Bettlerin im Mittelpunkt steht – abgesehen von all den Filmen, in den Charlie Chaplin einen Tramp spielte. Und Capra brachte in zahlreichen Details tatsächlich die Armut des Straßenlebens, die Kehrseite des amerikanischen Traums auf die Leinwand, wenngleich er jede Anklage vermeidet. Der Kern des Capra-Märchens ist, daß sich auch hartgesottene Gangster als hilfsbereit erweisen, wenn es darauf ankommt. Und daß man viel weiter kommt, wenn man sich gegenseitig hilft, statt sich zu bekriegen und umzubringen. Ein bißchen hat mich der Film zudem an Fritz Langs „M“ erinnert, denn die Unterwelt ist auch hier eine parallel zur anständigen Gesellschaft funktionierende soziale Gruppe, die in ihrem Machtbereich ungehindert und auch sinnvoll agieren kann.

Mit ihren Capra-Filmen machte die Columbia tatsächlich im US-Kinogeschäft Boden gut. May Robson, die erst am Ende der Stummfilmzeit vom Theater zum Film gewechselt und hier bereits 75 Jahre alt war, erhielt für ihre Rolle der „Apfel-Annie“ eine Oscar-Nominierung. Bis heute ist niemand Älterer nominiert worden. „Lady for a Day“ erhielt außerdem Nominierungen für den besten Film, das beste Drehbuch und die beste Regie. Es war die erste Nominierung sowohl für Capra als auch für die Columbia.
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