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Alt 08.01.2017, 02:51   #115  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Apropos Zensoren: Wer sich näher mit der Materie beschäftigt, gerät ziemlich schnell in trübe Gewässer. Denn mehr als einmal haben die lieben Kollegen (von Kolleginnen finde ich keine Belege) als Zensoren gewirkt.

Zur Illustration begnüge ich mich mit drei Beispielen:

Josef Friedrich Freiherr von Retzer (1754-1824) war ein hoher Staatsbeamter im habsburgischen Österreich und ein heute kaum noch bekannter Schriftsteller. Im Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950 heißt es über ihn:
Zitat:
Retzer Josef Friedrich Frh. von, Schriftsteller und Beamter. * Krems (NÖ), 25. 6. 1754; † Wien, 15. 10. 1824. Sohn des Salz-Oberamtskontrollors Wenzel A. Frh. v. R.; besuchte 1762–74 die Theresian. Ritterakad. in Wien und war dort u. a. Schüler von Denis sowie des späteren Wr. Fürsterzbischofs S. A. Gf. v. Hohenwart (s. d.), dem er bis ins späte Leben verbunden blieb. Trat 1774 in den Staatsdienst, zuerst als unbezahlter Praktikant bei der Ministerialbanko-Hofdeputation, wurde 1782 Hofkonzipist, 1783 Zensor, ab 1787 Hofsekretär. Ab 1801 durfte er keine hist.-polit. Bücher mehr zensieren, 1819 wurde er von der Zensur suspendiert. 1782 in die Freimaurerloge „Zur wahren Eintracht“ aufgenommen und bald darauf zum Meister erhoben, gehörte R. zum engsten Kreis I. v. Borns, in dessen Haus er mit Sonnenfels, Blumauer, Ratschky, Alxinger, Poschinger u. a. ständiger Gast war. Er verkehrte auch in den Wr. literar. Salons. R. beherrschte zahlreiche Fremdsprachen und machte sich bes. als Übers. aus dem Engl. einen Namen. Obwohl er selbst als Schriftsteller und Wissenschafter keine allzu große Bedeutung erlangte, stand er mit vielen Gelehrten und Dichtern in aller Welt in Verbindung, die ihm tw. ihre Werke widmeten. Er war bis zuletzt den Idealen der Aufklärung treu und bemühte sich auch stets, als Zensor in diesem Sinne zu wirken. Er war Mitarbeiter am „Wienerischen Musenalmanach“, am „Journal für Freymaurer“ und am „Oesterreichischen Taschenkalender“.
Der Verfasser des Oblomow, Iwan Alexandrowitsch Gontscharow | Иван Aлeксандрович Гончаров (1812-1891) war ebenfalls über ein Jahrzehnt als Zensor für den Zaren tätig:
Zitat:
Russischer Schriftsteller; der Sohn eines reichen Getreidehändlers war nach Ende seiner Ausbildung (1834) an der Universität Moskau 30 Jahre lang Staatsbeamter in Sankt Petersburg; ab 1856 arbeitete er als Zensor der Pressebehörde bis er sich schließlich 1867 aus diesem Amt zurückzog. Gontscharow war einer der Schöpfer und Hauptvertreter des russischen realistischen Romans. In Oblomow (1859) schilderte er einen reichen, begabten, aber energielosen Menschen, der im Nichtstun (O blomowschtschina), der Langeweile versinkt.
Sogar Nobelpreisträger finden sich darunter, siehe Nagib Mahfus (1911-2006).
Horst Blume geht in seinem Beitrag explizit auf seine doppelte Rolle ein:
Zitat:
Der Schriftsteller als Zensor

Machfus vermied in seinen Romanen und Kurzgeschichten plakative politische Statements. Stattdessen arbeitete er mit subtilen Umschreibungen. Das musste er auch schon allein deswegen tun, weil er seit 1934 erst in der Universitätsverwaltung, später in dem Ministerium für "fromme Stiftungen" arbeitete und den Herrschenden nicht allzu unangenehm auffallen durfte. Die "Schreiber", Angestellten und Beamten, mit denen er zu tun hatte, fanden sich später in seinen Romanfiguren wieder. 1959, inzwischen mit mehreren ägyptischen Staatspreisen für sein schriftstellerisches Werk geehrt, wurde er innerhalb des Kulturministeriums zum Vorsitzenden der - Kunstzensur! Hierzu gehörten auch Filme, Lieder, Theater, Fernsehen ...

In einem Interview erläuterte er diesen problematischen Sachverhalt wie folgt: "Dr. Tharwat Ukasha war Minister für Kultur geworden, und er war ein Mann, der die Künste liebte. Er wollte für den Zensurposten jemanden, der ebenfalls ein Liebhaber der Künste ist. (...) Ich verbot nichts, wenn es nicht aufgrund der Umstände völlig unmöglich war, es nicht zu verbieten. (...) Ich war immer auf Seiten der Kunst. Deshalb meinten auch einige Minister, daß ich von diesem Posten wieder entfernt werden sollte." (4) Nach neun Monaten musste Machfus diese Position wieder verlassen.
Einzelfälle sind das nicht mehr, aber für pauschale Urteile reicht das noch weniger.
Diese Zwischenbilanz mahnt (mich jedenfalls) zur Vorsicht.
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