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Alt 05.01.2016, 16:13   #54  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Mythen und Legenden: "Mein Bestseller in der Schublade"

Viele Leute behaupten, sie könnten einen Roman erzählen.
Obwohl nur Worte aneinander gereiht werden, verlangt das schwere Handwerk eine sportliche Kondition. Ausdauer ist mehr gefragt als Sprintqualitäten. Insofern hat jede und jeder, der ein Manuskript verfaßt hat, meine Hochachtung verdient.

Auf zahlreichen Buchveranstaltungen, wo Verlage und Verleger anwesend waren, konnte ich jedoch erleben, wie sich junge Talente selbst sabotierten. Wer an die Öffentlichkeit will, muß von seinem Werk überzeugt sein und darf sich nicht kleinreden lassen. Absagen und Verrisse kommen sowieso. Insofern werfe ich niemandem etwas vor, der offensiv wirbt.

Peinlich wird es bei dem Spruch: "Das muß unbedingt zur nächsten Buchmesse erscheinen. Das ist ein wichtiges Buch. Das ist ein Bestseller. Ich habe alles absolut richtig gemacht. Der Roman braucht kein Lektorat mehr. Druck mein Werk und bringe es in jede Buchhandlung der Welt."
Und falls der Verleger, die Lektorin oder ein Herausgeber auf dem Teppich bleibt und sagt, das sei ein alter Hut und andere hätten das schon besser geschrieben - tja, dann schimpft der Abgewiesene wie ein verschmähter Liebhaber, wie ein betrogener Idealist.
Der Typ mit dem Manuskript zieht dann weiter und sucht sich das nächste Opfer.

In der Regel haben die Leute aus der Verlagsbranche recht.
Manche Stoffe und Themen liegen in der Luft, deshalb rate ich lieber zur Zurückhaltung. Wer sagt, sein Werk sei einzigartig, setzt die Latte so hoch, daß sie fast automatisch gerissen wird. Die Idee und das Konzept bilden nur den Grundstock. Wichtig ist die Ausführung. Bei Debütanten zählen jeder Makel, jede Schlamperei und jede Unterlassung doppelt und dreifach.

Schnellschüsse in der Verlagsbranche sind meist Zweitverwertungen: Kompilationen von journalistischen Artikeln, wissenschaftlichen Beiträgen oder Kurzprosa, die sich in Jahren angesammelt haben. Das Manuskript muß in jedem Fall überarbeitet werden, und bis daraus ein Buch geworden ist, dauert es mindestens vier bis sechs Monate.
Schließlich muß der Buchhandel ja irgendwo erfahren, daß der Titel erscheinen wird. Werbung und PR verlangen einen Vorlauf, sonst katapultiert sich der Titel ins Abseits.

Im Windschatten eindrucksvoller Bestseller (Harry Potter, Hunger Games usw.) wird das deutlich. Niemand schreibt einen Roman von 400 bis 600 Seiten über Nacht - und nicht alle jungen Autorinnen und Autoren sind blasse, blutleere Epigonen eines vermeintlichen Erfolgsschemas.
Hier möchte ich Rezensenten und Kommentatoren in die Pflicht nehmen: Besonders die großen Verlagshäuser wollen Modeströmungen ausreizen, solange sie lukrativ sind. Wer das Pech hat, findet sich zwischen Scylla und Charybdis wieder. Wenn der Verlag unbedingt ein bestimmtes Publikum ansprechen wird, werden die Autorinnen und Autoren vor die Wahl gestellt: Entweder wird das Manuskript so getrimmt, daß die Ähnlichkeiten mit dem Bestseller betont werden - oder der Vertrag platzt.
Zähneknirschend beißen die jungen Talente in den sauren Apfel.

Wenn jemand dann nach Jahren eine Fanbasis gewonnen, das Lob der Kritik erhalten hat und die Zahlen stimmen, dann besteht die Chance auf eine Neuauflage.
Durch Selbstverlage und eBooks besteht heute eine zweite Chance für Bücher, bei denen Verlage kein Interesse mehr an Nutzungsrechten haben (meist nach zwei bis fünf Jahren). Der Autor oder die Autorin kann das Werk dann in einer verbesserten Fassung neu herausgeben.
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