Thema: Filmklassiker
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Alt 26.04.2024, 06:14   #2048  
Peter L. Opmann
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Beim nächsten Film kenne ich das genaue Aufnahmedatum: 1. April 1991. Es erscheint nämlich von Zeit zu Zeit ein Schriftband mit einer „breaking news“, die damals noch nicht so genannt wurde: der Ermordung des damaligen Treuhandchefs Detlev Rohwedder. Im Vergleich zu diesem realen Mord sind die Morde im Film eine gemütliche Angelegenheit. Ich spreche von „Das letzte Wochenende“ (1945) von René Clair. Ich finde diese Kriminalkomödie nicht völlig gelungen, aber man kann aus der Analyse unter verschiedenen Aspekten Nutzen ziehen. Möglicherweise lieferte Clair hier das Muster für alle folgenden Agatha-Christie-Verfilmungen; der Stil ähnelt insbesondere den Miss-Marple-Filmen mit Margaret Rutherford. Es ist einer von vier Filmen, die der Franzose in Hollywood gedreht hat. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs floh er in die USA und arbeitete für die 20th Century Fox. Ähnlich wie Fritz Lang hatte er wenig Schwierigkeiten, sich an die amerikanische Produktionsweise anzupassen, kehrte aber bei Kriegsende sofort nach Frankreich zurück. Er war auch einer der profiliertesten Regisseure, gegen die sich ab Ende der 1950er Jahre die Nouvelle Vague wandte.

Ich habe bisher bei den Inhaltsangaben wenig Rücksicht auf Spoiler genommen, aber dieser Film, der auf Christies Roman „Zehn kleine Negerlein“, später geändert in „Und dann gab’s keines mehr“, beruht, ist ein so klassischer Whodunit, daß ich mich diesmal auf die Exposition beschränke (falls jemand den Film noch nicht kennt und nun gern sehen möchte – er ist public domain). Sechs Männer und zwei Frauen werden von einem Mr. U. N. Owen in ein Haus auf einer abgelegenen Insel eingeladen. Es gibt dort zwei Bedienstete; Owen erscheint nicht. Alle zehn Hausbewohner haben sich eines Kapitalverbrechens schuldig gemacht, und nun werden sie einer nach dem anderen, jeder völlig unerwartet, umgebracht, damit dem Recht Genüge getan wird. Die Überlebenden kommen allmählich darauf, daß Owen (seinen Namen kann man auch als „unknown“ verstehen) einer von ihnen sein muß – aber wer? Jetzt mißtraut jeder jedem. Am Ende zeigen sich Abweichungen vom Muster. Ein Gast ist gar nicht der, der er zu sein schien. Gleichzeitig werden falsche Fährten gelegt. Ganz zum Schluß wird das Geheimnis des Mr. Owen gelüftet – zwei Menschen haben überlebt.

Hier wirken mehrere Faktoren positiv zusammen: Das Drehbuch (von Dudley Nichols) faßt die Vorlage prägnant zusammen; die Schauspieler stellen ihre Typen gelungen dar (unter anderem Barry Fitzgerald, Walter Huston, Louis Hayward und June Duprez); und Clair inszeniert das Ganze sehr wirkungsvoll – es kommt eine Mischung aus viel Spannung, leichten Schockeffekten und schwarzem Humor heraus, die sehr unterhaltsam ist. Ich habe den Eindruck, daß der Film zudem eine eher europäische Handschrift hat; ein Gutteil der Schauspieler sind auch keine Amerikaner. Die Konstruktion der Story gibt freilich im Zweifel dem Effekt den Vorzug. Bei genauerem Nachdenken erscheint die Handlung nicht immer logisch; das stört aber nicht.

Clair macht hier handwerklich perfektes Kino. Wirklich zu bedeuten hat die Geschichte nichts – und das ist das, was die jungen Filmemacher der Nouvelle Vague ihren Vorgängern vorwarfen. Ich würde jedoch sagen, daß der Film, weniger sorgfältig gemacht, noch immer seine Wirkung gehabt hätte. Dafür sollte man Clair nicht tadeln, sondern eher loben. Soweit ich gesehen habe, wird der Film von der Kritik auch fast ausnahmslos gelobt, wenngleich er damals nur beim Filmfestival von Locarno einen Preis bekam. Der Filmhistoriker Jerzy Toeplitz vertritt die entgegengesetzte Position und schreibt: „Am schwächsten war René Clairs vierter amerikanischer Film, den der Autor selbst gern aus seinem Schaffen streicht. (Dieser Film) war wahrscheinlich ein Zugeständnis oder ein Kompromiß seitens des Regisseurs. In formaler Hinsicht hat sich René Clair der ihm anvertrauten Aufgabe so gut wie möglich entledigt; er schuf (einen Film), der gut gemacht und interessant war, besser als korrekt gespielt worden ist und zu alledem großen Erfolg hatte. Aber es war zugleich ein leerer Film, dem der individuelle Stempel der Originalität fehlte, es war ein unpersönlicher Film. Jeder Regisseur in Hollywood hätte ihn gedreht haben können…“
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