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Alt 13.04.2023, 14:47   #139  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Vom Schlüsselroman zum Dechiffrierkartell

Wer schreibt, muß sich mehreren Herausforderungen stellen.
Zum einen sollte der eigene Name im Gespräch bleiben, damit er gleich in den Köpfen ist, wenn ein neues Buch erscheint. In der Hinsicht ist es wichtig, daß das Werk beim ersten Lesen mehr bietet als nur eine Pointe am Schluß; gut, die schadet nicht, kann aber bestenfalls die Kirsche auf der Torte sein.
Anderswo habe ich ja schon Mythen erwähnt, und bei Klassikern hat das Publikum ebenfalls ein gewisses Grundwissen, selbst wenn die konkreten Werke gar nicht gelesen wurde. Das Wie ist dabei fast wichtiger das Was oder Wer; und besonders bei unzuverlässigen Erzählern läßt sich prüfen, wie die eigene Wahrnehmung auf eine falsche Spur gelockt wurde und welche Bluffs bei einem gewirkt haben.

Wenn ein Buch den Nerv der Zeit trifft, ist das ein Jackpot, fast ein garantierter Bestseller.
Neben einem Gespür für bestimmte Ereignisse und Zusammenhänge gehört eine gelungene Atmosphäre zu einem runden Werk. Bei einem Schlüsselroman sind diese Verschlüsselungen relativ eindeutig und bieten Eingeweihten ein amüsantes Kreuzworträtsel. Aber zu platt und zu präzise sollte die Verfremdung auch nicht sein, denn bestimmte historische Ereignisse mögen in der Gegenwart plakativ und allgemein bekannt wirken; doch spätestens in einigen Jahren kann sich niemand mehr an das konkrete Vorbild erinnern.
Uwe Tellkamp hat mich auf diesen Gedanken gebracht, denn Der Turm ist noch ein klassischer Schlüsselroman mit all seinen Vorzügen und Nachteilen; bei seinen neueren Lesungen und erst recht bei seinem Roman Der Schlaf in den Uhren geht er subtiler vor, was mich in den Ausschnitten der 3sat-Doku an Arno Schmidt erinnert hat. Im Rahmen seines Worldbuilding nutzt er ein größeres Konzept, das er sich wie eine Landkarte skizziert hat. Abgesehen davon, daß mich auch Tellkamps Motive und seine Wortwahl an Schmidt erinnert haben, weicht Tellkamp seine Verfremdungen auf und löst sie aus eindeutigen Zusammenhängen. Auf diese Weise gelingt es ihm im Einzellfall das Allgemeine zu sehen, das zutiefst Menschliche, das sich je nach Situation wandelt und doch etwas ewig Gleiches verkörpert.

Mit seinen Verschlüsselungen hat Arno Schmidt seinem Publikum Material geliefert, das immer wieder zum Neuentdecken einlud; jede weitere Lektüre konnte mit dem Vorwissen tiefere Einblicke gewähren. Bei Schmidt hat sich dieses Spiel zwischen dem Worldbuilding und dem Publikum verselbständigt, indem eine kleine Gemeinde seiner Jünger herausgemendelt hat, die als Kartell sein Werk dechiffrieren, um sich selbst und anderen einen Spaß zu bereiten.
Auch wenn Arno Schmidt einigen Kritikern als provinziell galt, seine Art der Verfremdung hat einen Maßstab gesetzt, weshalb er in diesem Sinne ein Vorbild für Autoren sein kann.
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