Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 08.07.2022, 17:31   #137  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
Benutzerbild von Servalan
 
Ort: Südskandinavien
Beiträge: 10.321
Blog-Einträge: 3
Standard Sprechen wir mal über Uwe Tellkamp

Wer mit seinen Mauskripten einen Hausverlag gefunden hat, dem wird trotzdem kein roter Teppich ausgerollt: Uwe Tellkamp zum Beispiel kann darüber ein Lied singen.
Seine Anfänge teilt er mit jedem gewöhnlichen Talentierten. Der Arztsohn und zeitweise Hilfspfleger auf einer Intensivstation veröffentlichte seinen ersten satirischen Text noch in der DDR, nämlich 1987 im Eulenspiegel. Fünf Jahre später trat er in Dresden das erste Mal als Schriftsteller auf. Sein erster Roman Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café fiel 2000 beim Publikum durch.
In den Fokus der Öffentlichkeit geriet Tellkamp 2004 als er den Hauptpreis der Tage der deutschsprachigen Literatur im österreichischen Klagenfurt gewann, den mit 22.500 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Dort las er einen Auszug aus einem Roman, der im Herbst 2008 bei Suhrkamp unter dem Titel Der Turm erschien und in Niedersachsen umgehend Pflichtlektüre bei der Abiturprüfung in Deutsch wurde.
Der gefeierte Wenderoman entwickelte sich zu einem Bestseller, der in mindestens 15 Ländern übersetzt und für das Fernsehen zu einem Zweiteiler mit prominenter Besetzung verfilmt wurde. Weitere Buchpreise runden das Bild ab. Die erste Kröte, die Tellkamp schlucken mußte, ist der Umstand, daß der Verlag Faber & Faber 2009 sein Romandebüt gegen seinen Willen ein zweites Mal auflegt.

Von den Medien wird Tellkamp hofiert, weil er ein ostalgiefreies und dissidentes Image der "neuen Bundesländer" personifiziert, das dem Zeitgeist entspricht und vom Feuilleton abgefeiert wird. Das läuft gut, solange sein Verhalten und seine Äußerung als politischer Kommentar zum Zeitgeschehen den Erwartungen entspricht. 2018 setzt er sich dann bei einer öffentlichen Debatte mit seinen Äußerungen in die Nesseln und erntet heftigen Gegenwind. Sein Verlag Suhrkamp distanziert sich von ihm, setzt ihn jedoch nicht vor die Tür. Obwohl er die Nähe von Leuten sucht, über die der Stab gebrochen wurde und die seinem Ansehen schaden, folgte in diesem Frühjahr die Fortsetzung seines Erfolgsromans, Der Schlaf in den Uhren, wieder bei Suhrkamp.
In den letzten Jahren hat sich auf diese Weise ein Image gefestigt, das Tellkamp eher widerwillig als politisch unzuverlässiger und undankbarer Zeitgenosse verkörpert.
Dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen war die Person der Zeitgeschichte Uwe Tellkamp sogar einen abendfüllenden Dokumentarfilm wert, für den sich der Regisseur zwei Jahre Zeit nehmen durfte. Die 3sat-Doku Der Fall Tellkamp - Streit um die Meinungsfreiheit geht subtil vor, indem sie weitgehend auf eingesprochene Kommentare verzichtet und einen Autor zu zeichnen versucht, der sich politisch hoffnungslos verrannt hat. Vor der Kamera darf sich Tellkamp gern um Kopf und Kragen reden, denn weitgehend kommen seine Gegner zu Wort. Daß jemand Tellkamp verteidigt, geschieht selten, zum Beispiel wenn die Autorin und Journalistin Jana Hensel sachlich feststellt, vor 2015 haben gewisse Stoffe über die ehemalige DDR keine Nachfrage bei den Medien gefunden.

Nun ja, daß Tellkamp schreiben kann, gestehen ihm seine eingestandenen Feinde zu. Dabei fällt auch auf, wie diese Kritik an Tellkamp inszeniert wird. Beim letzten Literarischen Quartett im ZDF, der Neuauflage mit der Moderatorin Thea Dorn, wurde Der Schlaf in den Uhren nämlich von Dorn vorgestellt. Durch diese exponierte Weise, denn eine Moderation garantiert von vornherein eine neutrale Position, wurde klargestellt, daß es "nur" um literarische Kritik ging - und die Runde sich keineswegs als politisches Tribunal verstand, das über Tellkamp persönlich richtete.
Trotz allem Gegenwind steht Der Schlaf in den Uhren mittlerweile auf Platz 3 der Spiegel-Bestsellerliste, die eine immense Bedeutung für den Buchhandel hat und implizit bedeutet, daß Buchläden vor Ort den Titel wohl im Sortiment führen werden und er nicht umständlich bestellt werden muß. Laut Suhrkamp sind seit dem 16. Mai 50.000 Exemplare ausgeliefert worden. Die 3sat-Doku kam in den ersten fünf Tagen nach der linearen Ausstrahlung auf erstaunliche 38.000 Sichtungen.
Bei meinem Fazit fällt mir auf, wie häufig der grantelnde Tellkamp, der sich an den aktuellen Verhältnissen reibt und scheuert, quasi automatisch als Unsympath dargestellt werden sollte, was ich unfair finde. Ich kenne nur wenig hochwertige Literatur, die zu allem Ja und Amen sagt und geistlos applaudiert. Ich finde eher, daß er sich mit Nörglern und eigenwilligen Käuzen wie Thomas Bernhard oder Arno Schmidt in guter Gesellschaft befindet.
Wer seine eigene Weltsicht bestätigt wissen will, sollte woanders suchen. Und selbst für Leute, die Tellkamp politisch nahestehen, wird sein Buch ein harter Brocken sein, dessen Buchrücken im Regal ein Statement darstellt. Wie hoch der Anteil der Käufer ist, die ihren neuen Tellkamp von vorne bis zur letzten Zeile lesen, steht auf einem anderen Blatt.

Ich bin gespannt, wie es mit Uwe Tellkamp und seinem Werk weitergeht.

Geändert von Servalan (10.07.2022 um 23:39 Uhr)
Servalan ist offline   Mit Zitat antworten