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Alt 26.06.2022, 20:12   #136  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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2003 erschien von Meg Wolitzer ein Roman mit dem schlichten Titel The Wife; darin geht es um Joan Archer, die 1958 von ihrem Professor Joseph Castleman fasziniert ist und ihm ihren ersten Schreibversuch zeigt. Natürlich ist der junge Englischprofessor, der auch Kreatives Schreiben unterrichtet, nicht zufrieden zu stellen und schlägt weitere Überarbeitungen vor. Darüber hinaus unterbreitet er seiner Studentin das Angebot, sein Kind zu hüten. Joan verarbeitet ihr Erlebnis zu einer weiteren Kurzgeschichte. Joan und ihr Professor haben eine Affäre, die bekannt wird; Castleman wird deswegen entlassen.
Zwei Jahre später arbeitet Joan Archer als Verlagssekretärin und kann beobachten, wie die Männerrunde der Redakteure, Manuskripte von Frauen verächtlich aussortiert. Einen weiteren Dämpfer bekommt sie bei der Lesung einer ehemaligen Kommilitonin in der Universitätsbibliothek, die ihr zynisch klarmacht, daß Joans literarische Werke im Regal der weiblichen Alumnis landen werden, wo sie ungelesen Staub sammeln. Das könne Joan hören, wenn ein Buch zum ersten Mal geöffnet werde.
Joseph Castleman hat literarische Ambitionen und bittet Joan, sich "Die Walnuß" einmal anzusehen. Sie kritisiert offen die Schwächen seines Textes, was er als persönlichen Angriff auffaßt. Joan muß ihn erstmal besänftigen und versichert ihm, daß sie ihn schätzt. Dann bietet ihm an, sein Manuskript gründlich zu überarbeiten. Zu ihrer beiderseitigen Verwunderung nimmt ein Verlag das Manuskript an, und der Roman wird ein Bestseller.
1992 erhält der inzwischen wohlhabende Joseph Castleman einen Anruf aus Stockholm, er habe den Literaturnobelpreis gewonnen, weil er den Roman auf eine neue Stufe gehoben hat. Mittlerweile versucht sich auch David Castleman, der Sohn, literarisch und wünscht sich nichts sehnlicher, als die Anerkennung seines Talents durch seinen Vater.
Auf der Reise ins winterliche Stockholm hat die Familie einen Stalker, den Möchtegernbiographen Nathaniel Bone, der eine fixe Idee hat. Er kennt das Frühwerk sowohl von Joseph Castleman als auch von Joan Archer, deren literarische Qualitäten er schätzt. Bone ist davon überzeugt, daß Joan in Wahrheit die Ghostwriterin von Joseph Castleman ist, und will seine These am liebsten öffentlich machen. Joan, die zweite Frau des Nobelpreisträgers, ist jedoch kategorisch dagegen ...

2017 wurde der Roman von dem schwedischen Regisseur Björn Runge mit Glenn Close in der Hauptrolle verfilmt: Die Frau des Nobelpreisträgers heißt er auf deutsch.
Mir gefällt er, weil er keine einfachen Lösungen bietet. Der feministische Grundtenor bietet zwar eine Baseline, die Musik selbst wird jedoch von einem ruhigen Rhythmus und leisen Tönen bestimmt. Vor dem historischen Hintergrund hätte Joan Archer bestenfalls ein Werk veröffentlicht, dann wäre sie in Vergessenheit geraten; Joseph Castleman allein wäre ohne fremde Hilfe wohl jemand geblieben, der für die Schublade geschrieben hätte. Mit all dem Vorwissen ist der Nobelpreisträger "Joseph Castleman" ein Amalgam von Joan und Joseph, etwas Drittes, das über die beiden menschlichen Komponenten des Erfolges hinausreicht.
Auf der Ebene wird "Joseph Castleman" zu einer Marke, einem Logo, bei dem Joseph Castleman nur die öffentliche Fassade ist. Sein lüsternes Verhalten gegenüber jüngeren Frauen ist dabei weniger ein Makel, sondern erfüllt eher ein Klischee.
Der entscheidende Schritt liegt hier zwischen dem eigenen zwanghaften Schreiben, um ein elementares Bedürfnis auszudrücken, und dem Erscheinen des physischen Buches im Handel, auf dem Markt, wo es ein Publikum findet. Insofern bestimmt die Konferenz der Verlagsredakteure als Mise en abyme ständig das Geschehen: obwohl sie abwesend sind und unsichtbar bleiben, bestimmen letztendlich sie, was Literatur ist und was nicht.

Geändert von Servalan (31.05.2023 um 18:09 Uhr)
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