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Alt 21.10.2023, 15:24   #239  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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  • Heinrich Böll: "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen", in: Frankfurter Hefte (Verlag J.H.W. Dietz Nachf. 1955)
  • Doktor Murkes gesammeltes Schweigen (Bundesrepublik Deutschland 1964, Deutsche Verlags- und Fernseh GmbH für Hessischer Rundfunk), Drehbuch: Dieter Hildebrandt, Regie: Rolf Hädrich, 46 min, FSK: ohne Altersbeschränkung
Obwohl Heinrich Böll 1972 den Nobelpreis für Literatur erhielt und als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Nachkriegszeit gilt, hatte ich persönlich mit ihm immer Probleme. Ich habe den Eindruck, dass er sich fürchtete, mißverstanden zu werden, und deshalb immer mit angezogener Handbremse schrieb. Als ob er Angst davor hatte, literarisch zu scheitern, falls er von seinem Plan abwich. Für meinen Geschmack kommt er recht bieder daher, mehr eine Art Wallraff-Reportage als ein Sprachkunstwerk. Sein berechtigtes Anliegen schimmert wie eine Skizze durch den fertigen Text. Trotz allem gestehe ich ihm handwerkliche Qualitäten zu, aber ich würde mich nicht wundern, wenn er für die nächsten Generationen allmählich zu einem Schriftsteller aus der zweiten Reihe wird.
Viele Nachkriegsautoren haben mit den Produktionen für den Rundfunk ihren Lebensunterhalt bestritten, und auch Böll wird den Betrieb gekannt haben. Insofern hat er schon den Mut, die Hand zu beißen, die ihn füttert. Im Fokus stehen jedoch die Kontinuitäten, die die 1950er Jahre mit der Zeit des Nationalsozialismus verbinden. Das verspottete Subjekt, der Intellektuelle Bur-Malottke, steht in der Hackordnung ziemlich weit oben und darf eigene Entscheidungen treffen, die die Subalternen wie Doktor Murke dann ausbaden müssen.

Bölls Kurzgeschichte ist sprachlich dicht am Kabarett, deshalb halte ich es für folgerichtig, wenn ein junger Kabarettist wie Dieter Hildebrandt den Stoff für die Mattscheibe bearbeitet und die Hauptrolle mimt. Weil die Verfilmung nicht auf 90 Minuten aufgebläht wurde, wirkt sie in der Kürze pointiert; nur die komische Schnulze im Tonstudio finde ich absolut überflüssig. Mit Dieter Hildebrand, Heinz Schubert und Dieter Borsche habe ich vertraute Gesichter wiedererkannt.
Für eine Fernsehproduktion empfand ich die Verfilmung mutig, teilweise mußte ich an Tati denken, besonders wenn die Besichtigungsgruppe der Geistlichen durch den Goldsaal dackelt. Die Musik von Peter Thomas unterstützt den Eindruck, hier quasi ein Dokument der Nierentischära vor sich zu haben. Insgesamt muß ich sagen, dass ich die Verfilmung besser finde als die Vorlage.

Geändert von Servalan (21.10.2023 um 16:16 Uhr)
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