Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 25.04.2016, 23:59   #3  
underduck
Moderator sammlerforen
 
Benutzerbild von underduck
 
Ort: Köln-Bonn
Beiträge: 123.436
Im Folgenden finden Sie Informationen zur Lebenswerk-Preisträgerin Claire Bretécher, zu den beiden Preisträgern in der Kategorie „Spezialpreis der Jury“ sowie Texte der Jury zu allen nominierten Titeln.

Zitat:
Max und Moritz-Preis 2016

Sonderpreis für ein herausragendes Lebenswerk:
Claire Bretécher

„Das ist doch wirklich Unsinn“, sagte Claire Bretécher vor einigen Jahren im Interview, als die Rede auf den Philosophen Roland Barthes kam, der sie einst die „wichtigste Soziologin Frankreichs“ nannte. Die Interviewerin hakte nach. Sie beobachte nicht, erklärte Bretécher, ihre gezeichneten Geschichten kämen aus ihrem sozialen Umfeld, und handelten mehr oder weniger von ihr selbst. Erst hinterher stelle sich dann heraus, dass eine ganze Menge Leute ihre Ansichten teilten. – Bretécher wirkt, noch Jahrzehnte nach dem Erscheinen der ersten „Frustrierten“-Comics, über diesen Umstand einigermaßen überrascht.
Wenn der Max und Moritz-Preis für ein herausragendes Lebenswerk in diesem Jahr an Claire Bretécher geht, dann wird damit eine Künstlerin geehrt, deren Einfluss, spätestens seit ihrem endgültigen Durchbruch 1973, gar nicht überschätzt werden kann. Wer alt genug dafür ist, kann sich noch an die Bombe erinnern, die die urbanen Plapper-Szenarien aus Frankreich im deutschsprachigen Raum war (eine erste, gute Übersetzung erschien 1978 beim Rowohlt Verlag). Permanent unterspannte Frauen (und Männer) fläzten sich im Tuschestrich auf Sofas und Betten, hockten im Bistro, verhandelten Revolution und Rohrzucker, Religion und Menstruation und zu enge Hosen. Weinflasche und Zigaretten lagen griffbereit, der Kippschalter zur Hysterie war ebenfalls nie weit. Die „linke Elite“ nannte man diese Kreise damals, heute würde man „Bobo“ dazu sagen. Allein die Art, wie diese Figuren in Kissen versanken oder ihre Beine dreifach ineinander verschlangen und dabei redeten und redeten! Erfrischend hässlich waren sie auch.
Schlabberpulli, Augenringe, Hüftspeck, Schlappen ... Und nie stimmte das, was sie wollten und glaubten, mit dem überein, was sie tatsächlich lebten. Daraus ergab sich der Humor, die Pointen, die Melancholie auch, die bei jedem überragenden Komiker mitschwingt.

Man muss von der Zeit reden, in der Bretéchers Alltagsstorys in unsere deutschsprachigen Leselandschaften platzten. Comics waren damals Cowboys und Raumfahrer, Micky Maus, das Zack-Magazin, die streng gehüteten Asterix-Alben der älteren Cousins ... ein paar Cartoonisten, der eine oder andere Zeitungsstrip mit klar beschränktem Horizont. „Die Frustrierten“ mit ihrem weichen Strich, ihrer thematischen Unerschrockenheit und pietätslosem Witz landeten in dieser Abenteuerwelt wie ein Samengeschoss von einem anderen Stern. Um sie herum sprossen bald viele ähnliche Gewächse, von Franziska Becker und Frida Bünzli bis Geneviève Castrée. Bretécher sei, meinte jüngst Catherine Meurisse von „Charlie Hebdo“, weiterhin ein „unterschwelliger Einfluss“ – selbst Zeichner, die ihre Arbeit nicht kennen, zeigten Spuren ihres Schaffens im zweiten oder dritten Grad.
Denn es gab ja im Anfang nur sie. Das Mädchen aus Nantes, geboren 1940 in eine bürgerlich-katholische Familie, bekam mit 15 vom Vater gesagt: „Wenn du erst einen Chef hast, dann wird er dich schon zurechtstutzen!“
Damals nahm sie sich vor, dass sie ihr eigener Chef bleiben würde. In Paris, nach der Ausbildung als Zeichenlehrerin, öffnete ihr René Goscinny die Tür zu einer Comic-Welt, die mit den Magazinen „Spirou“, „Tintin“, und „Pilote“ im Umbruch war – und entließ sie einige Jahre später mit der Bitte, wiederzukommen, wenn sie besser zeichnen könne. Mit Kollegen Marcel Gotlieb alias Gotlib und Nikita Mandryka entstand 1972 „L’Echo des Savanes“ („Gotlib wollte Schwänze zeichnen und Mandryka hatte eigene Anliegen. Für mich gab es keinen Grund, dabei zu sein, aber es klang unterhaltsam“). Elf Ausgaben des einflussreichen Underground-Magazins verantwortete sie mit, bevor sie 1973 überraschend zu „Le Nouvel Observateur“ wechselte, dessen Redakteur auf der Suche nach frischem Wind war. Auftritt: „Die Frustrierten“, gefolgt von „Die eilige Heilige“, „Die Mütter“, „Monika, das Wunschkind“ und schließlich die vielleicht meist geliebte Figur Bretéchers, die Teenagerin „Agrippina“. Längst war Bretécher ihre eigene Verlegerin geworden (auch in diesem Punkt galt: Kein Chef; heute werden die Bücher von Dargaud
herausgegeben – auf Deutsch zuletzt von Reprodukt). Neben Sempé kamen ihre Haupteinflüsse vor allem aus den USA: Jules Feiffer, das MAD-Magazin, Johnny Hart.
Und ja, sie war eine Frau, die sich in einer Männerwelt behauptete (nicht schwer, versichert sie, wohlwissend, dass man das nicht von ihr hören will). Ab den „Frustrierten“ – „ich hatte meine Handschrift gefunden“
– bestimmt der weibliche Blick ihre gezeichneten Lebenswelten. Wie ungewöhnlich das war in einer Zeit, in der Frauen im Comic vor allem als kurvenreiche Pappfiguren auftraten! Wie normal das heute geworden ist! Auch das hat Bretécher uns vorgemacht: Dass Frauen wie Männer ganz hervorragendes Material für Helden-, und mehr noch für Antihelden-Geschichten abgeben. Pourquoi pas? Mit einem Comedy-Gespür zum Niederknien: Es wird uns eine Ehre sein, und höchste Zeit, Claire Bretécher den Max und Moritz-Preis 2016 für ihr herausragendes Lebenswerk zu verleihen. (Brigitte Helbling für die Jury)

Buch-Veröffentlichungen von Claire Bretécher in deutscher Sprache (Auswahl):

– Die Frustrierten. 5 Bände. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1978–1980
– Frühlingserwachen. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1979
– Die kleinen Nervensägen. Verlag Gerhard Stalling. Oldenburg u. a., 1980
– Die eilige Heilige. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1982
– Die Mütter. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1983
– Kopfsalat. 2 Bände. Carlsen Verlag / Edition Comic Art. Hamburg, 1983
– Zellulitis 1. Carlsen Verlag / Edition Comic Art. Hamburg, 1984
– Monika, das Wunschkind. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1985
– Dr. med. Bobo. 2 Bände. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1986–1987
– Beziehungskisten. Cartoons. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main, 1987
– Wenn Männer ihre Tage haben. Comics und Cartoons. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main, 1988
– Agrippina. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1989
– Touristen. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1990
– Agrippina: Allergien. Reprodukt. Berlin, 2009
– Agrippina: Fix und Fertig. Reprodukt. Berlin, 2015

Spezialpreis der Jury

„Katharsis“ von Luz
Übersetzung: Uli Aumüller und Grete Osterwald. S. Fischer Verlag
Mittwoch, der 7. Januar 2015. Rénald Luzier feiert seinen Geburtstag, indem er mit seiner Frau ein morgendliches Schäferstündchen genießt. Ein ganz normaler Geburtstag. Wirklich? Rénald Luzier heißt auch Luz, er ist seit 1992 Zeichner und Redakteur von „Charlie Hebdo“, und der 7. Januar ist der Tag des Blutbads bei „Charlie Hebdo“. Luz überlebt, weil er zu spät kommt. Und er reagiert souverän: Die Zeichnung des weinenden Propheten mit der mehrdeutigen Legende „Alles ist vergeben“ stammt von ihm. Doch wenig später kann Luz nicht mehr weiter arbeiten. „Eines Tages ist mir das Zeichnen abhandengekommen“, schreibt er, „am selben Tag wie auch eine Handvoll teurer Freunde.“
In „Katharsis“ erzählt Luz in kurzen Comics, wie die Zeichnung wieder zu ihm zurückfand und ihm erlaubte, den Anschlag zu bewältigen: mit Verzweiflung, Bosheit und schwarzem Humor, denn auch in der Verarbeitung von Trauer und Panik bleibt Luz ein Satiriker. Beeindruckend: Luz zeichnete „Katharsis“ unmittelbar nach dem Anschlag; das Buch erschien in Frankreich bereits im Mai 2015. „Katharsis“ geht unter die Haut. Luz‘ Frau und er wissen, dass ihr Leben nie wieder die frühere Unbeschwertheit haben wird – und Luz begreift bald, dass das auch für ihn als Zeichner gilt. Statt zu dem zurückzugehen, worin er ein Meister ist, zur Karikatur, erfindet er sich neu: Luz entfesselt seinen Strich und nähert sich der freien Zeichnung an. Er verarbeitet die Vergangenheit und zeichnet sich in die Zukunft.
Die Zeichnung ist wieder zu Luz zurückgekehrt. Aber er hat „Charlie Hebdo“ verlassen: Die Aktualität interessiert ihn nicht mehr genug, und die leeren Stühle an den Redaktionssitzungen seien unerträglich geworden.

Spezialpreis der Jury

avant-verlag für seine Verdienste um die Pflege kulturellen Erbes
In der nicht-grafischen Literatur ist es vollkommen selbstverständlich, dass der Kanon der wichtigsten Werke der Literaturgeschichte annähernd vollständig in deutscher Sprache verfügbar ist. Die grafische Literatur führt diesbezüglich ein Schattendasein. Zentrale Werke der Comic-Geschichte sind über Jahre und Jahrzehnte hinweg auf dem deutschsprachigen Markt nicht verfügbar oder waren es sogar nie. Von adäquaten, sorgfältig aufbereiteten und liebevoll hergestellten Ausgaben ganz zu schweigen. In den letzten Jahren beginnt sich dies erfreulicherweise zu ändern und auch die grafische Literatur punktuell so etwas wie ein Bewusstsein für die eigene Geschichte zu entwickeln. Wobei es als Verleger nach wie vor ein besonderes Wagnis ist, in einem Genre, das entweder nach wie vor als Massenmedium verkannt oder immer noch häufig als leichtgewichtig eingestuft wird, mit Klassikern zu reüssieren.
Stellvertretend für die Bemühungen vor allem kleinerer Verlage, die Comic-Kultur zu pflegen, zeichnet die Jury des Max und Moritz-Preises in diesem Jahr den Berliner avant-verlag, bislang eher für innovative zeitgenössische Comics und Graphic Novels bekannt, und damit den Verleger Johann Ulrich für drei herausragende und verdienstvolle Bücher mit einem Spezialpreis für seine Verdienste um die Pflege kulturellen Erbes aus: „Eternauta“, ein politisch prophetischer Science Fiction-Klassiker der Argentinier Héctor Germán Oesterheld (1919 bis vermutlich 1978) und Francisco Solano López (1926–2011), die virtuose grafische Adaption von Dashiell Hammetts Roman „Fliegenpapier“ des Künstlers Hans Hillmann (1925–2014) sowie „Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois und andere Geschichten“ von dem bereits von Goethe verehrten Künstler Rodolphe Töpffer (1799–1846), liebevoll gestaltet und herausgegeben vom Comic-Künstler Simon Schwartz.

Geändert von underduck (26.04.2016 um 00:10 Uhr)
underduck ist gerade online   Mit Zitat antworten