Thema: Filmklassiker
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Alt 28.03.2024, 06:15   #1986  
Peter L. Opmann
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Ein Kuriosum der Filmgeschichte: Friedrich Wilhelm Murnau und Robert Flaherty, zwei herausragende Filmschaffende der Stummfilmzeit, taten sich zusammen, um „Tabu“ zu drehen. Der Film wurde 1929 auf Tahiti vorbereitet, 1930 gedreht und kam 1931 stumm heraus. Es gibt auch keine Zwischentitel. Die wenigen Informationen, die der Zuschauer braucht, werden in Briefen vermittelt. Sowohl Murnau als auch Flaherty hatten bereits Kassenerfolge geliefert, aber dieser Film paßte so wenig ins Konzept der Studios, daß er nur in Spezialkinos gezeigt wurde und keine Chance hatte, seine Kosten einzuspielen. Meine Aufnahme stammt übrigens vom Stummfilm-Festival 1995 in Esslingen.

Flaherty, ein Pionier des Dokumentarfilms mit speziellem Augenmerk auf Naturvölkern, wollte eine weitere Dokumentation drehen. Murnau, der den Film mit eigenen Mitteln weitgehend selbst finanzierte, nachdem die Produktionsfirma pleite gegangen war, hatte eher eine Abenteuergeschichte im Stil von Joseph Conrad im Sinn und setzte sich weitgehend durch. Aber es gab keine Stars (auch aus finanziellen Gründen) und keine genregerechte Handlung. So sah die Paramount, die den Verleih übernommen hatte, keine Chance, den Film kommerziell zu verwerten. Am Originalschauplatz zeigt er den Kampf eines Perlentauchers um seine Geliebte, die den Göttern geopfert werden soll; relativ nahe an der Realität. Aber das war nicht das, womit Hollywood üblicherweise sein Geld verdiente: Stars und eine Genrehandlung, in der sich das Publikum wiedererkennen oder in die es sich hineinträumen konnte.

Hitu, Botschafter eines polynesischen Königs, kommt auf die Insel, um eine neue „göttliche Jungfrau“ zu bestimmen, nachdem die bisherige gestorben ist. Die Wahl ist auf Reri gefallen, die eben eine Liebesbeziehung zu Matahi begonnen hat. Der Hintergrund des Tabus, das auf sie gelegt wird, bleibt ziemlich vage: Wer hat sie warum ausgewählt? Wird sie nun geopfert oder nicht – und zu welchem Zweck? Jedenfalls darf nun kein Mann sie mehr berühren. Aber Matahi und Reri fliehen auf eine Insel, wo bereits Zivilisation herrscht und sie unterzutauchen hoffen. Aber Matahi hat keine Ahnung von Geld – die Perlen, die er beim Tauchen gewinnt, verschenkt er freigiebig. Als Hitu auf die Spur des Paars kommt, kann er kein Schiffsticket kaufen, um mit Reri weiterzufliehen.

Matahi geht noch einmal tauchen, an einer wegen Haien sehr gefährlichen Stelle. Aber er holt erfolgreich eine weitere Perlmuschel herauf. Reri ist aber so von Angst und Schuldgefühlen gequält, daß sie freiwillig mit Hitu mitgeht. Matahi sieht bei seiner Rückkehr noch Hitus Boot sich entfernen und schwimmt hinterher. Als er mit einem Seil an Bord klettern will, schneidet es Hitu durch, und Matahi bleibt zurück und ertrinkt. Also eine sehr einfach erzählte, nicht sehr gewitzte Geschichte. Ihre Stärke ist die Exotik, die sicher stark von Flaherty bestimmte Schilderung des Lebens der Inselbewohner. Murnau fügte eine düstere Atmosphäre hinzu, voller Vorahnungen und Fatalismus. Der Film hat zwei Teile: Einer ist „Paradise“ betitelt, der andere „Paradise lost“,

Daß „Tabu“ der Produktionsweise in Hollywood keine neue Richtung oder neue Impulse gab, kann ich bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Der Film übt eine Faszination aus, die aber darin begründet ist, daß es wenig ähnliche Filme gibt. Für ein solches halbdokumentarisches Abenteuer-Melodram immer wieder ins Kino zu gehen, kann ich mir nicht recht vorstellen. Als einzigartiges Werk der Filmgeschichte hat „Tabu“ fraglos seinen Wert. Es gab damals sogar einen Oscar für die beste Kamera, und inzwischen ist der Film in die National Film Registry aufgenommen worden. Es war übrigens Murnaus letzte Arbeit. Er starb kurz vor Fertigstellung des Films 1931 bei einem Autounfall nahe Santa Barbara. Flaherty drehte bis 1948 unter großen Mühen noch eine Handvoll weiterer Dokumentarfilme.
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