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Alt 15.11.2015, 16:39   #12  
Servalan
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Standard Welt am Draht (Bundesrepublik Deutschland 1973)

WDR, 1 Staffel, 2 Folgen, insgesamt 204 min
Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder und Fitz Müller-Scherz, nach dem Roman Simulacron-3 von Daniel F. Galouyé, Regie: Rainer Werner Fassbinder
https://de.wikipedia.org/wiki/Welt_am_Draht
2010 wurde auf der Berlinale eine restaurierte Fassung vorgestellt, die auch als DVD erschien.
http://www.imdb.com/title/tt0070904/
http://www.fassbinderfoundation.de/

Ist das wirklich eine Serie oder bloß ein Spielfilm mit Überlänge? Darüber läßt sich streiten, und ich verstehe jeden, der meint, der deutsche Fernsehklassiker wäre hier fehl am Platz. Aber meine Entscheidung hat viel mit der Programmpolitik der Sender zu tun, die sich in 50 Jahren erheblich gewandelt hat.
In den 1970er Jahren vertraten die wenigen öffentlich-rechtlichen Sender einen Bildungsauftrag und verstanden sich als Filiale der Volkshochschule in den heimischen Wohnzimmern. Damals flimmerte die Verfilmung unter dem Label "Fernsehfilm in zwei Teilen" über die Mattscheibe", weil die bildungsbürgerliche Intendanz jeden Serienbegriff mied wie der Teufel das Weihwasser. Ungeachtet ihrer wirklichen Qualitäten waren Serien per se als minderwertige, billige Unterhaltung verrufen. Heute wäre wohl das Gegenteil der Fall, und derselbe Stoff wäre als dreiteilige Miniserie (zu je 60+ min) vermarktet worden.

Mittlerweile findet sich in Rezensionen, Beiträgen oder Aufsätzen standardmäßig der Vergleich zur Matrix-Trilogie der Wachoswkis. Das liegt wohl in erster Linie daran, daß heute jeder (zumindest dem Namen nach) Matrix kennt und weniger an Welt am Draht.
Was die Stimmung, die Art des Erzählens und des Schauspielens angeht, gleicht der Science-Fiction-Film um virtuelle Räume, Simulakren und Realität mehr Mamoru Oshiis Avalon – Spiel um dein Leben | アヴァロン (Japan / Polen 2001) oder Wild Palms.
Sowohl Oshii als auch Fassbinder scheren sich einen Dreck um klassische Dramaturgien: Ähnlich wie der Ermittler Fred Stiller (gespielt von Klaus Löwitsch) muß sich das Publikum in eine fremde, auf den ersten Blick unverständliche Welt hereinfinden. Ähnlich wie bei Oshiis zwölfminütigem Prolog wird zunächst nur eine seltsame Faszination vermittelt, während die eigentlich Story mit Verzögerung stattfindet.

Obwohl Fassbinder in Übersee zu den Exponenten des deutschen Nachkriegskinos gehört und geschätzt wird, kann ich mir vorstellen, daß viele Jüngere von dem intellektuellen Autorenfilmer mit seinen Ambitionen abgeschreckt werden. Aber Fassbinder hatte keine Berührungsängste: Vor der Kamera seines Freundes Wolf Gremm spielte er zum Beispiel den Kommissar in Kamikaze 1989 (BRD 1982, nach dem Roman von Per Wahlöö).
Wer will, kann Fassbinders Herkunft vom Theater noch erkennen, allerdings versteht er es (vor allem im zweiten Teil) auch, Action und Spezialeffekte ins Bild zu setzen.
Die Kulisse bilden in erster Linie reale Gebäude, die damals futuristisch und heute nostalgisch fremdartig wirken. Ähnlich beeindruckend hat der blutjunge Steven Spielberg in THX 1138 alltägliche Kulisse bis zur Abstraktion verfremdet.

Der Stoff hätte das Potential für ein Remake als Premium-Serie.

Geändert von Servalan (18.02.2020 um 17:02 Uhr)
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