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Alt 09.02.2017, 20:36   #72  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Vorurteile lösen sich nicht von heute auf morgen in Wohlgefallen auf.
Das dauert etwas länger, und mühsam ist es auch.
Das liegt an der Tatsache, daß die besten Argumente häufig ungehört verhallen. Unsere Primatenspezies entscheidet zuerst aus dem Bauch heraus.
Was wir Experten hier und anderswo zutage gefördert haben, bleibt meist in unserem übersichtlichen Kreis. Um etwas zu bewirken, müssen wir jedoch eine breite Öffentlichkeit erreichen. Das passiert ziemlich selten.
Spiegelmans Maus war so ein Glücksfall, später Marjane Satrapis Persepolis und in diesen Wochen March.

Bei Spiegelman haben sie alle noch die Stirn gerunzelt, die Großkopferten in den Feuilletons und an den Universitäten: Darf der das, den Holocaust im Comic zeigen? Kann ein Comic das überhaupt? Ist das nicht das falsche Medium? Hätte Spiegelman das nicht besser in einem Roman oder einem Spielfilm verarbeitet? Blah blah blah.

Bei March werden diese Fragen nicht mehr gestellt. Der wird von der Kritik mit Preisen bis zum gehtnichtmehr überschüttet und stürmt die Verkaufscharts des größten Onlinehändlers. Jedes dumme Geschwätz verstummt da. Der Erfolg wird höchstens staunend zur Kenntnis genommen.
Außerdem glaube ich, daß durch das Presseecho auch all jene einen gewaltigen (positiven!) Eindruck von der Trilogie haben, die noch einen Comic in Händen gehalten haben.

Nachdem sich der Film von der Jahrmarktsattraktion zur festen Spielstätte im Stadtbild gewandelt hatte, vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis sich der Tonfilm durchgesetzt hatte, wurde Film ja geringschätzig betrachtet.
Kafka ging zwar ins Kino, aber erst Hanns Zischler hat diese Tatsache gewürdigt. Der Stummfilm ist nämlich deutlich sperriger als das klassische Hollywood-Erzählkino, und realistisch ist er auch nicht immer.
Hinzu kommen die Kinofilme, die über das Fernsehen in jedes Wohnzimmer ausgestrahlt wurden. Wer diese Dauerpräsenz ignorieren wollte, mußte sich schon ordentlich anstrengen und wurde meist scheel angesehen ("Was, ihr habt keinen Fernseher? Was, du darfst nicht fernsehen?").
Dieser Vorteil fehlt dem Comic.

Was damals mit Spiegelman abgelaufen ist, sehe ich wie die Anfänge der Filmwissenschaft bei den Cinéphilen der 1920er und 1930er: Lotte Eisner, Rudolf Arnheim, Georg Lukács, Béla Balázs und Siegfried Kracauer.
Die verwickelte Wechselwirkung zwischen politischen Statement (Anti-Trump), historischem Comic (Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung) und den schwelenden Konflikten (Polizeigewalt, Rassismus) treffen die Gesellschaft der USA ins Mark - so wie der Mai '68, der ja auch mit Film (Nouvelle Vague, Cahiers du cinéma), Rock'n'Roll, Philosophie und einem Lifestyle verbunden ist.

Etwas Vergleichbares läßt sich in und für Europa nicht am grünen Tisch planen ...

Geändert von Servalan (09.02.2017 um 20:59 Uhr)
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