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Alt 30.06.2016, 16:20   #56  
Servalan
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Standard Joris-Karl Huysmans: Là-bas (1891) / Tief unten (1921)

Diverse Ausgaben, zuletzt Reclam 1994 und Gallimard 2004, darunter Maxi-Poche, Classique Français 1994, 349 Seiten
http://www.gutenberg.org/files/14323...-h/14323-h.htm
https://fr.wikipedia.org/wiki/Là-bas_(roman)
https://de.wikipedia.org/wiki/Tief_unten
http://www.larevuedesressources.org/IMG/pdf/La_-bas.pdf (Volltext im Original bei La Revue des Ressources als pdf, 259 Seiten)
http://www.theparisreview.org/blog/tag/la-bas/
http://www.e-litterature.net/publier...5&id_article=7

Mangelnde Menschenkenntnis gehört zu den beliebtesten Vorwürfen, die besonders Schreibanfänger und junge Autoren treffen. Verständlich. Wie unsere Spezies tickt, das erschließt sich nicht über Nacht.
Allerdings hat Menschenkenntnis nur bedingt etwas mit den biologischen Alter zu tun. Wer sich bloß in der eigenen Filterblase bewegt, seine Echokammer dicht abgeschottet hat und eigentlich mit dem Leben zufrieden ist - den trifft der Vorwurf natürlich härter. Authentische Erfahrungen werden heute umso lieber geschätzt. (Lebensläufe können frisiert werden, und wenn das ruchbar wird, verwandelt sich der potentielle Bestseller zu Altpapier.)
Reisen bringt nur denjenigen etwas, die fremde und fremdartige Erfahrungen an sich heranlassen und ihr Weltbild, wenn nötig, auch korrigen. Besonders spektakuläre Fälle haben jedoch schon in früheren Epoche Presse und Publikum gereizt.

Einige dieser Fälle sind so bizarr und faszinierend, daß sie wie der Kern eines Mythos durch etliche Jahrhunderte wirken. Dadurch werden sie überlebensgroß, weshalb häufig nur Bruchstücke und Fragmente ins Spiel kommen, sobald ein Paar aus zwei solchen Projektionsfiguren besteht.

Das beste Beispiel dafür sind Jeanne d'Arc und Gilles de Rais, die Heilige und das Monster, die Seite an Seite für den Dauphin gekämpft haben.

Die tragisch-verklärende Leidensgeschichte des Bauernmädchens von Orléans, einer Minderjährigen aus der Provinz, die mutig in den Krieg gezogen ist und ihrem obersten Lehensherrn die französische Krone beschert hat, ist heute eine Ikone für Feministinnen und französische Nationalisten. Denn sie wurde schmählich verraten, an den englischen Feind ausgeliefert, einem demütigenden Prozeß als Ketzerin unterzogen und auf dem Scheiterhaufen verbrannt - später jedoch heiliggesprochen.
Gilles de Rais hingegen lieferte das Vorbild für den frauenmordenden König Blaubart im gleichnamigen Märchen. Als Ritter schlug er seine Schlachten erfolgreich, allerdings beschäftigte er sich mit Alchemie und vermutlich auch mit Nekromantie. In der Umgebung seiner Schlösser entführten und verschleppten seine Diener Kinder, vorwiegend Jungen. Solange er unter dem Schutz des Königs stand, war er unantastbar. Irgendwann ging er zuweit, und dann geriet in die Mühlen der Justiz und wurde von der Inquisition wegen Häresie angeklagt.

Für den niederländischen Kardiologen und Hobby-Kultuwissenschaftler A.J Dunning bildet die Kombination Jeanne d'Arc-Gilles de Rais das erste Paar moderner Menschen, die in ihrer mittelalterlichen Welt dafür kein Verständnis erwarten dürfen (nachzulesen in seinem Buch Extreme. Beobachtungen zum menschlichen Verhalten).

Seine Brötchen verdiente der holländischstämmige Huysmans (1848-1907) als Beamter im französischen Innenministerium, während er ständig Texte veröffentlichte. Die meisten davon sind allerdings (wohl zurecht) vergessen.
1876 lernte er Zola kennen und wurde in dessen Schule von Médan (Gruppe der sechs) aufgenommen, wo er u.a. Guy de Maupassant und Paul Alexis kennenlernte. Huysmans naturalistische Romane über drastische Frauenschicksale aus der Pariser Unterschicht waren Bestseller, die jedoch von der Zensur bedroht wurden und als sittenwidrige Lektüre verboten werden konnten. In seinen späteren Jahren wurde Huysmans zum christlichen Mystiker.

Zum Kultautor, beispielsweise für Oscar Wilde, entwickelte sich Huysmans, als er mit Zolas Tradition brach und gewohnte Muster auf den Kopf stellte.
Vom Konzept her ähnelt sein bahnbrechendes Manifest À rebours / Gegen den Strich (1884) eher Lawrence Sternes absurd-verspieltem A Sentimental Journey Through France and Italy / Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien (1768). Huysmans' Anti-Reiseroman entwickelt sich zur Pflichtlektüre der dekadenten jungen Generation, denn der neurotische Aristokrat Jean Floressas Des Esseintes bereist nur ausgiebig sein Zimmer.

Là-bas hingegen liest sich über weite Strecken wie ein Vorentwurf zu Schnitzlers Traumnovelle oder Stanley Kubricks Eyes Wide Shut.
Durtal gehört zu Pariser Bohème, wo er sich mit anderen Autoren über andere Werke und Ästhetiken streitet. Sein eigenes Hauptwerk will er Gilles de Rais widmen, und um dessen Rätsel zu lösen, muß er sich mit Jeanne d'Arc befassen. Dabei will er nicht nur in Papier wühlen, vielmehr möchte er ähnliches erleben wie Gilles de Rais. Also hört er sich in okkulten Zirkeln und unter Satanisten um, weil er bei einer Schwarzen Messe unbedingt dabei sein will.
Im Laufe der Monate vergräbt er sich immer tiefer in sein Gilles de Rais-Projekt, was seine Gesundheit nicht fördert. Nach und nach treffen seltsame Briefe von einer Unbekannten bei ihm ein, die er mühsam einschätzen muß: Sind das ernst gemeinte Einladungen? Oder nimmt ihn einer seiner Freunde auf den Arm?

Geändert von Servalan (27.09.2016 um 13:23 Uhr)
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