Thema: Filmklassiker
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Alt 03.02.2024, 06:26   #1887  
Peter L. Opmann
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„Sie küßten und sie schlugen ihn“ (1959) von Francois Truffaut gilt als der eigentliche Beginn der Nouvelle Vague. Auch dies ein Erstlingswerk – von einem, der sich als Kinokritiker das Handwerkszeug des Regieführens angeeignet hatte. Truffaut verzichtet hier, soweit ich das überblicke, am konsequentesten auf Genreregeln. Godard hat sich zwar von dieser Regisseur-Gruppe am weitesten vom amerikanischen Genrefilm entfernt, aber er begann mit einem Gangsterfilm („Außer Atem“). Truffaut dagegen beginnt mit einer annähernd autobiografischen Geschichte, einem Film, der eigentlich uninteressant zu sein scheint, aber eine eigentümliche Faszination ausübt.

Jean-Pierre Leaud, zu diesem Zeitpunkt 14 bis 15 Jahre alt, hat in Paris Schwierigkeiten in der Schule, in der Pädagogik allerdings keine große Rolle spielt und die Schüler stur diszipliniert werden. Seine Eltern aus der unteren Mittelschicht (Claire Maurier, Albert Remy) vernachlässigen ihn – auch wegen eigener Probleme – und stehen seinen kleinen Regelverstößen mit Unverständnis und hilflos gegenüber. Maurier hat ihn aus einer anderen Beziehung in die Ehe mitgebracht und macht gern mal einen Seitensprung. Remy gibt sich zunächst kumpelhaft und wechselt dann zu einer autoritäreren Haltung – beides bringt ihm nicht das Vertrauen des Jungen ein. Leaud will von zuhause abhauen und allein auf sich gestellt „ein Mann werden“. Als er schließlich im Büro seines Vaters eine Schreibmaschine entwendet, um sie zu Geld zu machen, wird er in ein Heim für Schwererziehbare gesteckt. Dort erlebt er ebenfalls nur Druck und Strafen und nutzt schließlich eine Sportstunde zur Flucht. Er läuft bis zum Atlantik; ob er dem Heim entkommen ist, bleibt am Ende offen.

Diese alltägliche, nicht besonders dramatisierte Handlung wirkt dennoch selbst mit dem Abstand von mehr als 60 Jahren fesselnd, weil es Truffaut gelingt, ganz die Perspektive des Teenagers einzunehmen. Leaud interessiert sich für Literatur (Balzac) und macht sich Gedanken über sein Leben, aber er ist doch in gewissem Sinn noch ein Kind, das nicht in der Lage ist, verantwortliche Entscheidungen zu treffen. Daß er im Begriff ist, auf die schiefe Bahn zu geraten, ist aber so, wie das Truffaut zeigt, allein die Schuld der Erwachsenen, die an seiner Erziehung beteiligt sind, weil sie entweder an veralteten und untauglichen pädagogischen Konzepten festhalten (die Lehrer) oder sich wegen zu viel eigener Sorgen einfach zu wenig um ihn kümmern (die Eltern). Das wirkt ziemlich realistisch (auch wenn die gesellschaftlichen Bedingungen der Nachkriegszeit andere waren als heute), und man nimmt lebhaft Anteil an diesen verkorksten Verhältnissen.

Ein weiterer Widerspruch kommt dem Film zugute: Einerseits wirkt die Milieuzeichnung pessimistisch, denn man kann sich nicht vorstellen, wie Leaud oder andere Filmfiguren glücklich werden könnten. Andererseits erlebt der Junge das Leben immer wieder auch aufregend und verheißungsvoll. Wenn er nur aus seinen beengten Verhältnissen ausbrechen kann, denkt man, dann kanner auch sein Glück finden. Dabei spielt sicher eine Rolle, daß Truffaut hier teilweise seine eigene Jugend schildert, und trotz der familiären Probleme seiner Kindheit hat er es in der Welt des Films geschafft. Es ist ein produktiver Kontrast, den er hier sehr wirkungsvoll ausspielt. Ich habe auch in „Sie küßten und sie schlugen ihn“ keine Regiefehler oder Schwächen entdeckt, die man mit dem Debüt entschuldigen müßte.

„Sie küßten und sie schlugen ihn“ war wohl international so erfolgreich, daß der neue ungekünstelte und wahrhaftige Regiestil ernst genommen werden mußte und vielen ähnlichen Filmen den Weg bahnte. Truffaut erhielt in Cannes den Regiepreis und wurde für das Drehbuch für einen Oscar nominiert. Bemerkenswert: In Cannes war ihm ein Jahr vorher noch die Akkreditierung als Kritiker verweigert worden, weil er über das Festival zu kritisch geschrieben hatte.
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