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Alt 27.07.2016, 16:52   #59  
Servalan
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Standard Henry David Thoreau: Walden; or, Life in the Woods (1854)

Deutscher Titel: Walden oder Leben in den Wäldern oder Walden oder Hüttenleben im Walde.
Diverse Ausgaben, darunter Signet Classic CE 2121 (NAL Penguin 1980), 256 Seiten, zuletzt Diogenes Verlag 2015
https://de.wikipedia.org/wiki/Walden
http://www.gutenberg.org/ebooks/205 (Volltext bei Gutenber.DE)
https://archive.org/details/waldenorlifeinwo1854thor (Volltext der US-Erstausgabe im Internet Archive)
https://librivox.org/search?title=Wa..._form=advanced (Volltext als Audiobook, Public Domain bei LibriVox)
http://thoreau.eserver.org/walden00.html (Volltext mit Anmerkungen)

Die Erstausgabe lag wie Blei in den Regalen. Es dauerte sage und schreibe fünf Jahre, bis die 2.000 Exemplare ihre Leserschaft gefunden hatten. Bis zum Tode Thoreaus 1862 war das Buch verständlicherweise vergriffen.
Er veröffentlichte noch ein weiteres Buch, das sich aus verlegerischer Sicht gleichfalls nicht rechnete. (In diesem Sinne war Thoreau kein One-Hit-Wonder.)

Im 19. Jahrhundert lasen vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter dieses Brevier über das einfache Leben in der Natur. Allgemein gilt der Transzendentalist Thoreau als Säulenheiliger der ökologischen Bewegung, zumal es Mahatma Gandhi inspirierte. Gewaltfreiheit, Spiritualität und Askese sorgten für einen festen Platz in der Lektüre der 1968er.
Ähnlich wie Shakespeare läßt sich dieser einflußreiche literarische Text auf vielerlei Arten interpretieren, denn ein weiterer Strang führt über Survivalisten und Extremlibertäre zu Theodore Kaczynski (verurteilt als Unabomber) sowie zu den berüchtigten Turner Diaries. Robbie Williams' Kinohit Der Club der toten Dichter hingegen ist eine harmlosere Hommage.
Deshalb wundert es mich nicht, daß sich jede Generation ihren eigenen Thoreau ins Deutsche übersetzt.

Bei meinem privaten Curriculum jenseits des Klassenraums habe ich darauf geachtet, möglichst viele Standpunkte kennenzulernen - auch wenn mir die nicht gefielen. Ich mußte mich mit fremden Gedankengängen vertraut machen, damit ich mich aus Klischees und Stereotypen lösen konnte.
Wenn ich Leute schildern wollte, mit denen ich mich persönlich auf keinen Fall identifizieren wollte, mußte ich über meinen Schatten springen.

Mit seinem Werk erschuf Thoreau die Blaupause für (Selbst-) Erfahrungsbücher, Experimente am eigenen Leib (wie Karen Duves Logbuch über ihre Ernährungsgewohnheiten) und das, was später Autofiktion genannt wurde.
Thoreau war mit dem Schriftsteller Nathaniel Hawthorne befreundet und diente Ralph Waldo Emerson als Sekretär, bevor er sein Experiment in die Tat umsetzte und sich in die Natur zurückzog.
Der Walden Pont in Massachusetts befindet sich heute in einem Naturschuitzgebiet, aber eine wirkliche Konfrontation mit der harten Natur (frei nach Natty Bumppo und Chingachcook) bedeutete sein Rückzug nicht. Der See liegt in einem idyllischen Winkel, das zum Fischen, Wandern, Picknicken und Jagen geeignet ist. Allerdings beträgt die Entfernung zur nächsten Regionalzugstation bloß 1,4 Meilen und schon zu Thoreaus Zeiten durchschnitt ein Pendlerzug das Gelände.
Weil er Menschen verabscheute und am liebsten mied, hielt er nichts von Arbeit (Karl Marx' Neffe Paul Lafargue schlägt in seinem Das Recht auf Faulheit 1883 einen ähnlichen Tonfall an). Walden hat etwas von einem Fakir, einem Sufi oder einem Mönch, der seine Kreise nicht gestört sehen möchte.

Vom März 1845 bis September 1847 lebt er in einer selbstgebauten Hütte und notiert feinsäuberlich, mit welchen geringen Mitteln er auskommt. In seinem Reservat versucht er zu leben wie Robinson Crusoe auf seiner Insel.
Wer sich näher mit der US-amerikanischen Mentalität befassen will, erhält hier tiefe Einblicke.

In meiner Ausgabe wird das tagebuchartige Werk durch Gedichte und Thoreaus wirkungsvollsten Aufsatz On the Duty of Civil Disobedience (1849) ergänzt.
Von den einen wird die Schilderung eines Gefängnisaufenthaltes wegen verweigerter Steuerzahlung als Manifest gewaltlosen Widerstands interpretiert, andere wie zum Beispiel die Tea Party-Bewegung lesen es als Abkehr vom Staat und der Gesellschaft.

Geändert von Servalan (21.08.2016 um 15:30 Uhr)
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