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Alt 23.07.2016, 16:21   #58  
Servalan
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Standard Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman (1909)

Diverse Ausgaben, leider nur antiquarisch.
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_andere_Seite_(Roman)
http://www.alfredkubin.at/Philosophie.htm
http://www.deutschlandradiokultur.de...icle_id=137704
http://www.habenichtse.de/moderne-ph...-andere-seite/
https://phantastikon.de/20150205/alf...-andere-seite/
https://www.literaturportal-bayern.d...&pnd=118567365

One-Hit-Wonder gibt es nicht nur in Musik, sondern auch in der Literatur. Diese Kometen am Himmel der Belletristik können verdammt einflußreich sein und/oder sich zeitweise zu richtigen Bestsellern entwickeln.
Ein kurz zuvor verstorbener Autor - Freitod wirkt spektakulär - oder ein Prominenter aus einer anderen künstlerischen Disziplin sorgten schon damals für die entsprechende Mundpropaganda.
Das Angebot reicht dabei von wissenschaftlichen Schriften (wie Otto Weiningers Geschlecht und Charakter*) über Unterhaltungsromane von Journalistinnen (Margaret Mitchells Gone With the Wind / Vom Winde verweht) bis hin zu frustrierten Bildenden Künstlern wie J.J. Grandville (Un autre monde / Eine andere Welt).
Eine Garantie für ein großes Publikum bietet diese Masche allerdings nicht: Grandville fühlte sich von seinen Zeitgenossen mißverstanden und mußte erst Generationen später wiederentdeckt werden.

Wie Grandville war Alfred Kubin im k.u.k.-Österreich eigentlich ein Grafiker, der vor allem durch seine Buchillustrationen und Bühnenbilder einen Ruf erwarb. Er gehörte 1909 zu den Gründern der Künstlergruppe Neue Künstlervereinigung München (N.K.V.M.), aus der 1911 der berühmtere Blaue Reiter hervorging.
Kubins Titel klingt verdächtig nach Grandvilles spätem Roman. Beide Romane wurden von den Surrealisten oder auch von Franz Kafka geschätzt, obwohl ihre Qualitäten völlig unterschiedlich gelagert sind.
Bleiben wir bei Kubin.

Der Tod seines Vaters warf Kubin völlig aus der Bahn. Um seine Depression zu bewältigen, setzt er sich an den Schreibtisch. In zwölf Wochen entsteht Die andere Seite, die Kubin selbst mit 52 Zeichnungen illustriert.

Hauptfigur des Romans ist ein namenloser Ich-Erzähler, ein Zeichner wie Kubin, der Besuch einem Gesandten seines ehemaligen Klassenkameraden Claus Patera erhält. Der Multimillionär (sic!) Patera hat sich in Asien sein eigenes Traumland Perle eingerichtet, in das er den Ich-Erzähler und seine Frau einlädt. Die tun das großzügige Angebot zunächst als Scherz ab, doch irgendwann siegt die Neugier und sie brechen auf.
Perle liegt allerdings hinter einer dicken Mauer, und der Zoll läßt das Paar erst durch, als sie ihr gesamtes Hab und Gut hinter sich lassen. Das hermetisch abgeschottete Traumreich soll den Zeichner inspirieren, aber in Perle funktioniert der Alltag nach aberwitzigen Regeln, so daß sich das Leben allmählich in einen Alptraum verwandelt.
Aber der Herrscher Claus Patera hat einen Rivalen und Widersacher, den Amerikaner Hercules Bell, der eine Revolution anzetteln will. Der Zweikampf ruiniert Perle, und mit jedem Tag nähert sich die Apokalypse ...

Mit Kubin gelangt die phantastische Seite des Alltags in die Belletristik, die andere und die eigene Welt lassen sich zuerst kaum voneinander unterscheiden. Heute zählt Stephen King zu den Meistern dieser Schreibweise, aber in der Belle Epoque war das eine revolutionäre Neuerung.
Im ersten Jarzehnt des 20. Jahrzehnt krempelten technische Durchbrüche den Alltag komplett um: Grammophon, Kintopp, Automobile, U-Bahnen und etliche andere Dinge drangen ins Leben der gewöhnlichen Bevölkerung ein (siehe Philip Bloms Kompendium The Vertigo Years: Europe, 1900-1914 / Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914). Neurasthenie war damals das, was heute Burn-Out genannt wird.

*Die Ansprüche an wissenschaftliche Erkenntnisse ändern sich: Heute gilt Weininger eher als reaktionärer Ideologe denn als Wissenschaftler.
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