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Alt 19.06.2016, 15:04   #52  
Servalan
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Standard Georg Büchner: Woyzeck (1836/37, erschien erstmals 1879)

Diverse Ausgaben, zuletzt in der Marburger Ausgabe 2006, darunter auch Altamira Literaturcomic 1990, 62 Seiten
Die Lese- und Bühnenfassungen unterscheiden sich erheblich voneinander, weil Büchner nur ein Fragment hinterlassen hat.
https://de.wikipedia.org/wiki/Woyzeck
http://www.gutenberg.org/ebooks/5322 (Volltext bei Projekt Gutenberg-DE)
http://www.gutenberg.org/ebooks/21185 (gemeinfreie Hörbuchfassung bei Projekt Gutenberg-DE)
http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Buechner/woyzeck.htm (Der Fall Woyzeck)

Aufgeführt wurde das soziale Drama fast zwei Generationen später, nämlich am 8. November 1913 im Residenztheater München. Dadurch liegen zwischen Büchners Handschrift und der Premiere auf den Brettern, die die Welt bedeuten, fast 80 Jahre, und das ist kein Zufall. Denn das Stück hätte das bürgerliche oder höfische Publikum der 1830er Jahre enttäuscht, weil es weder ein bürgerliches Trauerspiel war, noch zu den Idealen der Klassik oder Romantik paßte. Soweit zum historischen Hintergrund.

Mich verwundert das nicht.
Dieses Drama um einen Getriebenen paßt besser in eine Epoche, in der jeder Jack the Ripper kennt und der Erste Weltkrieg in der Ferne dräut.
Der Soldat Woyzeck muß sich als Ordonnanz eines Offiziers einiges für seinen mageren Lohn bieten lassen. Weil der zum Sterben zuviel, aber zum Leben zu wenig ist, verdient er sich bei einem Mediziner sein Zubrot. Heute nennt sich das Pharmastrich: Das medizinische Experiment besteht in einem strikten Diätplan, also darf Woyzeck nur Erbsenpüree essen.
Woyzeck liebt Marie, der er seinen kompletten Sold abgibt. Deswegen läßt er sich sowohl vom Offizier als auch vom Arzt triezen und drangsalieren. Als er jedoch spitzkriegt, daß ihn seine Marie mit einem Tambourmajor hintergeht und sich sein Verdacht bestätigt, fängt er an, Stimmen zu hören. Und die befehlen ihm, Marie umzubringen ...

Daß Büchner gerade diesen Stoff gewählt hat, ist kein Zufall. Büchner muß ein wahrer Tausendsassa gewesen sein, der drei Leben auf einmal gelebt hat.
Der Pate des bedeutendsten deutschen Literaturpreises war im Brotberuf ein Mediziner, der an Universitäten in einem Bereich forschte, der heute das Label "Lebenswissenschaften" trägt.
Sein Spezialgebiet war die Neurologie und die Erforschung des Gehirns. Seine Probevorlesung an der Universität Zürich hielt er "Über Schädelnerven". Das Material seiner Untersuchungen waren die Köpfe von frisch Enthaupteten.
Allerdings drohte ihm ein ähnliches Schicksal. Der Sohn aus einer Ärztefamilie wurde steckbrieflich als Terrorist gesucht. Seine heute noch beliebte Parole "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" aus dem Hessischen Landboten (1834) wurde jahrzehntelang in linken und anarchistischen Kreisen skandiert.
Seine literarischen Meilensteine enstanden bei dem Workoholic quasi nebenbei.

Dort bündeln sich seine verschiedenen Interessen.
Der historische Fall des Drama bildet den Fokus für einen juristisch-medizinischen Paradigmenwechsel, denn seither wird über menschliche Zurechnungsfähigkeit und Schuldfähigkeit gestritten. Erstmals kommt hier ein medizinischer Gutachter ins Spiel, der das Gericht berät und im Vorfeld des Urteils vieles vorwegnehmen kann.

Außerdem wendet sich der Republikaner (im Sinne der Französischen Revolution) Büchner den untersten Schichten zu, den Parias und Ausgestoßenen, die von Bessergestellten als "Pack" verachtet werden. Büchner läßt sie reden wie gewöhnlich, ungekünstelt und unverstellt. Woyzeck wird auf diese Weise zu einem tragischen Vorläufer von Tagelöhner-Helden wie Charlie Chaplins Tramp oder Pat & Patachon.

Geändert von Servalan (19.06.2016 um 15:56 Uhr)
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