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Alt 26.03.2024, 12:31   #165  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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In den letzten 50 Jahren hat sich der Buchmarkt gewaltig verändert, so dass heute andere Prinzipien gelten und Mechanismen greifen als damals. Wer gut zwei Stunden erübrigen kann, dem empfehle ich zwei Videos, in denen diese Umbrüche plastisch geschildert werden.

Oben hatte ich ja schon einmal das (alte) Literarische Quartett erwähnt, die ZDF-Sondersendung zum Buchmarkt, soweit ich mich erinnere, immer freitags auf dem Sendeplatz der Kultursendung aspekte. Üblicherweise wurden dort drei bis sechs belletristische Bücher, meist Romane, von professionellen Literaturkritikern unter der Schirmherrschaft des bärbeißigen Marcel Reich-Ranicki rezensiert; allerdings gestattete sich diese Reihe einige Freiheiten.
Davon zeugt die vierte Ausgabe vom 16. Dezember 1988 (76:32 min) aus Hamburg, in der Marcel Reich-Ranicki, Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek und Jürgen Busche über das Verlagswesen und den Literaturbetrieb im allgemeinen diskutieren. Sie sehen den Handel mit Büchern, den Umgang mit der kulturellen Ware, natürlich aus der Sicht der Literaturkritik und kommen zum Beispiel auf das Thema Übersetzungen.
Mein Hauptaugenmerk liegt auf dem damals noch rein analogen Buchhandel, und in der Hinsicht betonen die Kritiker zum einen den Einfluß von den kleinen Buchhändlern vor Ort, die ihren Kunden bestimmte Titel empfehlen und so das Kaufverhalten beeinflussen können. Zum anderen gibt es eine Stufe höher die Verlagsvertreter bei den Buchhändlern, die mit ihren Freiexemplaren gewisse Titel des Verlags ins Rampenlicht rücken und so eine wohlgesonnene Atmosphäre aufbauen können.

Das ernüchternde Pendant über den Zustand des Buchhandels von heute liefern die beiden Wirtschaftsblogger Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt in Episode 240 (März 2024, 50:51 min) ihrer Reihe Wohlstand für Alle: Adorno, TikTok und der Buchmarkt. Wer ein Buch auf den Markt bringen möchte, sollte sich das anhören, um einen realistischen Eindruck von seinen Chancen und Möglichkeiten zu bekommen, ein größeres Publikum zu erreichen.
Denn auf der einen Seite setzt der Sektor Buchmarkt heute in Deutschland 130 Milliarden Euro um, aber einen nicht geringen Anteil an dieser Tendenz tragen gestiegene Preise für Papier und Druck. Zudem sind im letzten Jahrzehnt 10 Millionen Leser verloren gegangen.
Verstärkt wird dieser Effekt noch durch das Matthäus-Prinzip: Wer anderswo prominent ist, hat es leichter, auf dem Markt zu reüssieren und der kann auch mit besserer Werbung rechnen. Hinzu kommt, dass große Verlage den Markt beherrschen, und selbst diese sind meist nur Filialen von internationalen Medienkonzernen, wie zum Beispiel der Carlsen Verlag, der zum schwedischen Bonnier-Konzern gehört.
Agenturen haben heute einen großen Einfluß, und die immer weitere Aufsplitterung in Subgenres werden Romane kleinteilig standardisiert, damit das Publikum das bekommt, was es erwartet. Entsprechend ernüchternd ist das Berufsbild Schriftstellerei, denn 80 % der Autoren benötigen einen Brotberuf, um nicht am Hungertuch zu nagen. Die meisten Autoren verdienen nur 1.000 Euro - im Jahr!
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