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Alt 22.11.2015, 14:59   #21  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Verglichen mit dem Erzählen von Geschichten, ist Literatur im engeren Sinne eine ziemlich späte Erfindung. Damit es einen Buchmarkt gibt, müssen genügend Leute lesen und sich ihren Lesestoff leisten können.

Bis es das Taschenbuch gab, waren Bücher teure Luxusgüter. Den ersten Boom erlebte der Buchmarkt in den deutschsprachigen Ländern in den 1770ern bis 1780ern. Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) war ein veritabler Bestseller, der die Mode geprägt hat (wie in der Nachkriegszeit Jazz und Rock'n'Roll die "Halbstarken") und heute noch wegen der Selbstmordwelle zitiert wird (heute bewirken das Musiker wie Kurt Cobain).

Dienstboten und andere Leute mit wenig Geld waren deshalb auf billige Zeitschriften angewiesen, wo die künftigen Romane als illustrierte Fortsetzungen erschienen. Andere Möglichkeiten waren Leihbibliotheken oder gemeinsame Anschaffungen, zum Beispiel für die Bibliothek eines Arbeiterbildungsvereins.

Ohne eine verbindliche Schulpflicht gäbe es den Markt nicht. Aber das war nur eine Nebenwirkung, weil die Landesherrn Kanonenfutter rekrutieren wollten, das Lesen können mußte. Schließlich wurde Mitte des 19. Jahrhunderts der Krieg technisiert (Krimkrieg, Amerikanischer Bürgerkrieg). Mittlerweile wächst hingegen sogar in Deutschland der Anteil der Analphabeten in der Bevölkerung. Als weitere Einschränkung kamen damals wöchentliche Arbeitszeiten von mörderischen 60 bis 80 Stunden hinzu.

Meiner Meinung nach ist die Genrefrage von nachrangiger Bedeutung. Damit ein Stoff wirklich literarisch durchgearbeitet werden kann, muß der Autor eine gewisse abgeklärte Distanz haben - und das ist frühestens eine Generation nach den Ereignissen der Fall (siehe Leo Tolstois Krieg und Frieden von 1867/1869 über die Napoleonischen Kriege und das Rußland von 1805 bis 1812). Die besten Werke lassen Genrekonventionen hinter sich, teilweise entstehen sie erst, nachdem das jeweilige Genre seine Blütezeit schon weit hinter sich gelassen hat. Wer will, kann Miguel de Cervantes Saavedras Don Quijote (1605 und 1615) ja gerne als Ritterabenteuer lesen.

Deshalb glaube ich, daß Philip K. Dick und Lem auch in Zukunft gelesen werden. Möglicherweise finden spätere Generationen Dinge darin, die wir heute gar nicht wahrnehmen können oder wollen. Wie diese Ausgaben dann aussehen, wäre eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Ich kann nicht hellsehen.

Seufz, wem erzähle ich das?
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