Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 27.02.2018, 17:08   #69  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
Benutzerbild von Servalan
 
Ort: Südskandinavien
Beiträge: 10.228
Blog-Einträge: 3
Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (Deutschland 1927), Drehbuch: Karl Freund, Carl Mayer und Walther Ruttmann, Schnitt und Regie: Walther Ruttmann, ursprüngliche Fassung: 1.466 Meter, restaurierte Fassung: 1.446 Meter ~ 64 min

Durch die DJ-Kultur und den Techno-Boom rund um die Love Parade (personifiziert durch DJ Motte und Rainald Goetz) gingen Begriffe wie Loop, Remix und Mashup in die Alltagssprache ein. Sogar die billigsten Handys erlauben jederzeit Fotos, Filme und akustische Aufnahmen, die später neu geschnitten werden können.
Diese Entwicklungen begannen im 19. Jahrhundert. Während die ersten Fotografien eine lange Belichtungszeit, für die Porträtierten eine anstrengende Prozedur, kompliziertes Material (Glasplatten) und eine diffizile Entwicklung mit giftigen Chemikalien in der Dunkelkammer erforderten, konnte sich wenige Jahrzehnte später fast jeder ein Porträtfoto leisten. Zunächst geriet dadurch die Kunst realistischer Ölmalerei in Bedrängnis. Was beim Salon des Refusés noch Hohn und Spott erntete, entwickelte sich in den nächsten 50 Jahren zu einer Abfolge immer neuer Avantgarden in der Bildenden Kunst.
Bald kamen Film (ein teures Hobby für reiche Leute), Grammophon, Tonband und Radio hinzu. Künstler testeten die Möglichkeiten der neuen Medien aus und veränderten dabei die Ästhetik, die Wahrnehmung des gewöhnlichen Publikums eingeschlossen. Falls sich eine Neuerung durchsetzte, wurde sie rasch zum Standard, der im Gegenzug dann auch in der Unterhaltung erwartet wurde.

Walter Ruttmann (1887 - 1941) hatte Kunst und Architektur studiert. Mit Viking Eggeling (1880 - 1925), Hans Richter (1888 - 1976) und Oskar Fischinger (1900 - 1967) bildete er die experimentelle Avantgarde des abstrakten Films bzw. des absoluten Films. Dabei wurde der unbelichtete Film direkt bearbeitet, häufig durch abstrakte Muster oder indem die Filmrolle mit Hammern und Nägeln malträtiert wurde. Die meist kurzen Werke des Cinéma pur sollten zeitliche Verläufe und räumliche Wahrnehmung bewußt machen.
Weitere bedeutende Pionierleistungen schuf Ruttmann mit Deutscher Rundfunk, dem ersten abendfüllenden deutschen Tonfilm, der auf der 5. Großen Deutschen Funkausstellung 1928 seine Premiere feierte, und 1930 mit seiner Tonmontage Weekend, einem Meilenstein in Hörspielgeschichte.
Böse Kratzer erhält sein künstlerischer Rang, weil er sich seit 1933 bei den Nationalsozialisten anbiederte. Für die schuf er Propagandawerke wie den sogenannten Kulturfilm Blut und Boden (1933).

Angelehnt an das Prinzip einer musikalischen Symphonie zeigt der Film ohne Handlung und ohne Hauptfiguren, wie ein gewöhnlicher Tag in einer modernen Metropole abläuft. Und diese Millionenstadt ist das quirlige Berlin der Weimarer Republik.
In der Frühe läuft ein Schnellzug in den Anhalter Bahnhof ein. Morgens füllen sich die Straßen. Busse, U- und S-Bahnen nehmen Pendler auf, andere gehen zu Fuß durch die immer voller werdenden Straßen. Nach und nach verdichtet sich der Rhythmus. Die Turmuhr des Roten Rathauses sorgt für eine Zäsur zwischen den einzelnen Sätzen. Nach der Mittagspause wird weiter gewerkelt und gearbeitet. Danach mischen sich die Heimkehrenden mit Leuten, die in ihrer Freizeit unterwegs sind. Langsam leeren sich die Straßen. Das Schlußbild liefert das kreisende Licht des Berliner Funkturms (im Westend) am dunklen Nachthimmel.

Das Werk besitzt eine frappierende Ähnlichkeit mit Frans Masereels Meisterwerken Mon Livre d'Heures | Mein Stundenbuch (Kurt Wolff Verlag 1920) und La Ville | Die Stadt (Kurt Wolff Verlag 1925). Obwohl Masereel (siehe "Kunst machen in Comics" # 32) in der Kunstszene der Weimarer Republik bekannt war, läßt sich keine Verbindung zwischen den Werken nachweisen.
Außerdem findet sich immer jemand, der schon vorher die gleiche Idee hatte. Das erste abendfüllende Stadtportät der deutschen Filmgeschichte hat nämlich Adolf Trotz geschaffen. Sein 85-minütiger Klassiker Die Stadt der Millionen. Ein Lebensbild Berlins (Universum-Film AG (UFA) 1925) steht im Windschatten von Ruttmanns übermächtigem Berlin – Die Sinfonie der Großstadt und wurde erst vor wenigen Jahren wiederentdeckt.

Geändert von Servalan (27.02.2018 um 23:35 Uhr)
Servalan ist offline   Mit Zitat antworten