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Alt 19.03.2016, 15:37   #43  
Servalan
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Standard Gilbert Keith Chesterton: The Man Who Was Thursday / Der Mann, der Donnerstag war (1907)

http://www.gutenberg.org/ebooks/1695
http://www.chesterton.org/lecture-10/
http://www.booksandculture.com/artic...jun/10.30.html
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Man_Who_Was_Thursday
https://de.wikipedia.org/wiki/G._K._Chesterton
https://en.wikipedia.org/wiki/G._K._Chesterton

Damit diese Kolumne abwechslungsreich bleibt, springe ich in den Zeiten und Epochen hin und her: Pro Seite beschränke ich mich deshalb auf eines oder zwei Werke, die älter als 600 Jahre sind; zum anderen habe ich ein persönliches Faible für Geschichten, die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind.
(Außerdem kann ich meine Erziehung nicht leugnen: Zu meiner Schulzeit waren sowohl der Lehrplan als auch das Angebot in den Buchhandlungen und Bibliotheken ziemlich europalastig. Häufig gab es nur bereinigte, gestraffte und gekürzte Fassungen von außereuropäischen Klassikern. Der jeweilige Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse lieferte einen Anlaß für eine Stippvisite und einige Appetithäppchen.
Durch den Boom der Nachkriegszeit und die Begeisterung für die Jugendkultur der USA wurden angelsächsische Bücher quasi allgegenwärtig. Lektüren im Englischunterricht kamen später dazu.)

G.K. Chesterton fällt in diese Epoche des technischen Aufbruchs und des gesellschaftlichen Umbruchs. Seine berühmteste Schöpfung ist der spitzfindige Pater Brown (im Original Father Brown), der in mehreren Bänden von Kurzgeschichten der Polizei auf die Sprünge hilft oder Verbrechen verhindert. Allerdings wird er wenig gelesen - es sei denn, von Leuten, die das Kriminalgenre studieren oder Anglisten. Die meisten kennen diese scheinbar biedere Figur aus dem Kino, aus Fernsehserien oder Hörspielen. Dieser Erfolg erweckt einen falschen Eindruck.
G.K. läßt sich nicht auf Pater Brown reduzieren, vielmehr gehörte der Journalist, Romancier und Essayist zu den umtriebigen Vielschreibern. Die englische Wikipedia schätzt sein imposantes Werk auf 80 Bücher, mehrere hundert Gedichte, über 200 Kurzgeschichten, um die 4.000 Essays sowie einige Theaterstücke.
Bei dem Pensum schleichen sich gewisse Routinen ein, die sich in seiner Vorliebe für bestimmte Redefiguren zeigt. Ihnen verdankt er seinen Spitznamen "prince of paradox". Wenn er scheitert, liest sich das heutzutage pubertär-pennälerhaft, andererseits kippt sein satirischer Humor oft ins Bizarre und Skurrile, wodurch er manchmal wie ein übervorsichtiger Vorläufer von Monty Python's Flying Circus wirkt.

Diese Masche hat Chesterton in etlichen Werken durchsexerziert. Dabei unterfüttert er seine Stories mit christlichen Allegorien (der Anglikaner trat später zur Römisch-Katholischen Kirche über), wodurch sie so etwas wie Koans in Cinemascope werden. Neben zahlreichen Hommagen wurden seine besten Ideen immer wieder von anderen abgekupfert.
Das trifft auch auf sein Hauptwerk, Der Mann, der Donnerstag war, zu: Die Szene mit den vermummten Verschwörern auf den ersten Seiten von Tim und Struppi: Die Zigarren des Pharaos lehnt sich deutlich an eine frühe Schlüsselszene des metaphysischen Thrillers an.

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderte grassierte im Vereinigten Königreich die Angst vor Terroristen. Unter den Exilanten aus Osteuropa wurden anarchistische Spione vermutet, die mit ihren Netzwerken die Gesellschaft untergruben und schlimmstenfalls Revolutionen anzetteln konnten. Hier kommen verdeckte Ermittler ins Spiel, denn auch neunmalkluge Besserwisser aus den höchsten Kreisen liebäugeln mit radikalen Ideen.

Im London King Edwards VII wird Gabriel Syme von Scotland Yard rekutiert, der einen anarchistischen Kreis infiltrieren und außer Gefecht setzen soll. Syme empfiehlt sich, indem er auf einer Party des Poeten Lucian Gregory den Gastgeber in ein Streitgespräch verwickelt. Die beiden Debattierenden verbeißen sich ineinander, bis Gregory Syme vorschlägt, ihn in den Obersten Rat der Anarchisten Europas einzuschleusen.
Der besteht aus sieben Personen, die sich konspirativ treffen und nur unter ihren Decknamen kennen, die den Wochentagen entsprechen. Symes Alter Ego lautet Donnerstag.
Allerdings schöpft der schon beim ersten Treffen in einem Hotel den Verdacht, daß noch andere mit gezinkten Karten spieler. Alle Verschwörer tragen falsche Bärte, Perücken und ähnliche Accessoires, und nicht immer wirken die Legenden überzeugend.

Das flotte Erzähltempo täuscht über die episodische Struktur der Scharade hinweg, im Grunde besteht die Nummernrevue aus witzigen Pointen, verblüffenden Kehrtwenden und einem irrwitzigen Überbietungswettbewerb, der irgendwann zu Slapstick wird. Verglichen damit bleiben Chestertons Figuren blass.
Deshalb liest sich sein Meisterwerk wie eine Reihe von Kabinettstückchen.

Geändert von Servalan (23.03.2016 um 10:29 Uhr)
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