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Alt 02.05.2016, 15:02   #82  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Wie kommt das Wissen in die Geschichte? (Teil 1)

Mit 12 habe ich meine ersten Versuche gemacht, und das sollten selbstverständlich Romane sein. In meinem Ehrgeiz konnte ich den Höhepunkt nicht erwarten, der mich beim Lesen beeindruckt hat. Wie im Rausch habe ich geschrieben, und die Endorphine haben mir das Hirn vernebelt. Spätestens nach zehn oder zwanzig karierten Seiten in meinem Ordner war die Luft raus ... Übrig blieb ein klägliches Wrack, für das ich mich geschämt habe.
Warum funktionierte das bei mir nicht, was Robert Louis Stevenson locker gelingt? Ich war neidisch auf mein bewundertes Vorbild.

Ohne Konzept mußte ich scheitern. Schließlich hatte ich ins Blaue improvisiert.
Aber was in meiner Vorstellung eindrucksvoll und mitreißend gewesen sein mußte, das las sich abgedroschen und langweilte zu Tode.
Schmerzhaft lernte ich meine Lektion: Ich muß auf kreative Weise lesen und mir die Kenntnisse meiner Idole mühsam aneignen. Ich brauchte ein Grundwissen über all das, was vor meiner Zeit in der Literatur abgelaufen ist.
Das dauert Jahre und Jahrzehnte, obwohl ich auch jetzt noch dazu lerne.

Wer Comics zeichnen will, kopiert zunächst Figuren und Posen der Meister. Beim Schreiben ist es ähnlich: Abschreiben und nachmachen ... und schon folgt der nächste Stolperstein, denn ich merke, wieviel Wissen in kleinen Andeutungen oder Hinweisen versteckt ist.
Manche Dinge oder Effekte scheitern, weil mir Details fehlen oder ich als Laiin falsche Schlüsse ziehe und Blödsinn verzapfe.

Wahrscheinlich bin ich nicht die Einzige, die in jüngsten Jahren meinte, sie müsse von vornherein jedes Mißverständnis vermeiden und eine gute Idee, einen guten Plot, eine gute Story mit verquasselten Informationen zumüllt.
Manche Genres vertragen mehr davon als Erzählungen aus dem Alltag: Technobabble, Kunstsprachen und Glossare über fremdartige Wesen und Welten werden von Science Fiction- und Fantasy-Fans geradezu erwartet;
wenn ich ein bestimmtes Ambiente (Pathologie, Justiz, Forstwissenschaften oder ähnliches) nutzte, darf ich das Publikum kurzfristig durch Expertenwissen verstören ...

Außerdem steht jedem mutigen Schreiberling ein unübersichtliches Arsenal an legitimen Techniken und Romantypen zur Verfügung. Ich muß nur aufpassen, daß ich mit meinen Zeilen das Publikum erreiche, was mir vorschwebt.
Durch die Allgegenwart der Medien ist sogar das Publikum vermeintlich leichter Unterhaltung mit anspruchsvollen Verfahren vertraut, und das erlaubt mir die Freiheit, Techniken zu nutzen, die vor zwei oder drei Generationen noch Avantgarde gewesen sind.
Schon 1973 erschien Stanisław Lems Imaginäre Größe (Wielkość urojona), das sich als Sammlung von Vorwörtern präsentiert. Aber sämtliche vorgestellten Werke sind fiktiv (existieren also gar nicht real), und Lem krönt diese Posse mit einem Vorwort der Vorwort-Anthologie.

Geändert von Servalan (21.06.2016 um 16:33 Uhr)
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