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Alt 27.03.2016, 15:33   #76  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Zitat:
Zitat von Peter L. Opmann Beitrag anzeigen
Aber das mit der Recherche ist doch eine knifflige Sache. Wenn man von Medizin keine Ahnung hat, nützt es auch nichts, wenn man im Pschyrembel nachschlägt. Man braucht einen Überblick über medizinische Zusammenhänge, sonst nützt einem auch das richtige Fremdwort am richtigen Ort nichts. Das gilt genauso für alle anderen Naturwissenschaften - und für die Geisteswissenschaften vermutlich erst recht.

Da würde ich lieber von Fachbegriffen die Finger lassen, wenn ich mich mit dem Fach eigentlich nicht auskenne. Oder wenn das extrem wichtig für meinen literarischen Text ist, dann würde ich mich richtig informieren. Etwa bei einem Freund, der sich in dem Fachgebiet auskennt. Oder ich würde mal einen richtigen Kurs machen, der mich in das Gebiet einführt.
Ehrlich gesagt, ich bezweifle, daß gerade junge Schreibanfängerinnen und -anfänger so abstrakt, formal und zielgerichtet vorgehen.
Es gibt immer mehrere Möglichkeiten, sich Wissen anzueignen, von denen jede ihre besonderen Stärken und Schwächen hat.
Aber keine ist per se schlechter als die andere.

Gerade unter Genreautoren finden sich etliche Seiteneinsteiger, die ihr Basiswissen in ihrem (früheren) Brotberuf erworben haben: als Anwälte wie Ferdinand von Schirach, John Grisham und Jens Lapidus, als Pathologin wie Kathy Reichs, als investigative Journalisten wie Stieg Larsson, als IT-Fachleute wie Andreas Eschbach, als Raumfahrttechnier wie Ziolkowski ... die Reihe ließe sich fortsetzen.

Wem der Weg über die Sprache besser liegt, wird sich das Grundwissen wahrscheinlich durch bezahlte Übersetzungen aneignen. Der Eintritt in den richtigen Fachverband (zum Beispiel Syndikat bei Krimiautoren) erleichtert vieles und sorgt dafür, peinliche Schnitzer im vorwege zu vermeiden.

Das Schwierigste dürfte nicht formalisiertes Wissen sein: Leider reicht es nicht, irgendwo Smalltalk zu protokollieren, um einen überzeugenden Dialog in einem Roman zu verfassen. Szenisches Schreiben muß Sachverhalte berücksichtigen, die aus dem Sprachkunstwerk selber kommen. Wenn der Stoff "realistisch" rüberkommen soll, müssen diese Tricks und Kniffe hübsch kaschiert werden, damit die Erzählung im Fluß bleibt.
Oder der Schreibende weicht lieber auf indirekte Rede aus und wendet sich von vornherein an ein anderes Publikum.

Ohne Konzept vergeude ich meine Kräfte.
An dem Punkt kann ich mich entscheiden, ob ich Wissen brauche, und wenn ja, welches.
Durch meine Wahl der Perspektive, des erzählerischen Fokus und des Erzählansatzes schaffe ich mir die Möglichkeit, bestimmten Wissensgebieten weiträumig auszuweichen und mich auf die zu konzentrieren, die mir liegen.
In einem Krimi kann ich komplett auf das scheibar obligatorische Pathologenchinesisch verzichten, wenn ich die polizeiliche und juristische Ermittlung in den Hintergrund schiebe und mich auf Rivalitäten, Verrat und Hierarchien im Gangstermilieu beschränke - wie Jens Lapidus' Easy-Money-Trilogie.

Je besser ich das Schreiben beherrsche, desto mehr Freiheiten habe ich und kann mich subtil mit vagen Andeutungen begüngen. Das Publikum reimt dann schon das Richtige zusammen.

Geändert von Servalan (29.10.2016 um 15:36 Uhr)
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