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Alt 22.09.2017, 17:25   #3791  
Peter L. Opmann
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Zitat von michidiers Beitrag anzeigen
Ob die jugendliche Inhuman nun das förmliche Sie gegenüber Reed und Co. ablegen darf, um zum jovialen Du überzugehen? Die Nummer 78 wird es zeigen.
Du meinst, sie darf künftig "you" statt "you" sagen?

Beginnen wir mal mit einer kleinen Rechnung: 75 Panels hat Jack Kirby für dieses Heft gezeichnet, das sind durchschnittlich 3,75 pro Seite. Man sieht, er arbeitet überwiegend mit großen Panels. Es bleiben zwar 20 Seiten, die er vollpinseln muß, aber damit ist wohl schon eine gewisse Rationalisierung verbunden. Später haben wir bei Kirby noch mehr große Panels und einen immer reduzierteren, dabei monumentaleren Zeichenstil. Er hat sich gezielt darum bemüht, immer mehr Seiten in immer kürzerer Zeit zeichnen zu können. Das war sein Versuch, am enormen Erfolg der Marvel Comics teilzuhaben.

Die Story dieser Ausgabe wirkt heute ziemlich frauenfeindlich – obwohl sie ganz anders gemeint war. Ausgangspunkt ist die Unterstellung, daß Crystal, eine junge Frau, trotz Superkräften nicht bei den Fantastischen Vier mitmachen kann. Sie möchte gern, weil Sue nach der Geburt ihres Sohnes nun eine Weile ausfallen wird. Schon Sue hatte mit dem männlichen Vorurteil zu kämpfen, sie passe und gehöre – als Frau – nicht ins Team. Frauen sollen liebreizend und still sein und sich von Zeit zu Zeit aus der Hand von Bösewichtern, die sie entführt haben, befreien lassen. Mehr nicht. So die herrschende Meinung Ende 1968, als der Comic erschien. Die Story „Jetzt kommt die schöne Crystal“ soll dieses Vorurteil widerlegen.

Crystal hat sich ein FV-Kostüm geschneidert und will so gleich vollendete Tatsachen schaffen. Aber Ben und auch ihr Freund Johnny reagieren sehr zurückhaltend auf ihren Wunsch, Teammitglied zu werden. Reed, der dazukommt, setzt noch eins drauf: „So eine Entscheidung sollte nicht leichtfertig getroffen werden.“ Das würde ein Mann sicher nie zu hören bekommen. Doch in diesem Moment startet der Zauberer (zuletzt zu sehen in FV # 74) seinen nächsten Angriff. Er hat neue Wunderhandschuhe konstruiert, mit denen er sich nun endgültig unbesiegbar fühlt. Zwei Seiten lang testet er sie, zertrümmert einen Truck und zerstört einen Hydranten, dann löst er aus der Ferne die alten Handschuhe auf, um die die FV gerade herumstehen. Sie wissen gleich, was das bedeutet. Ein erstes Kräftemessen zwischen dem Zauberer und der Fackel geht unentschieden aus. Da biegen die übrigen Mitglieder (ohne Sue, aber mit Crystal) im Fantasticar um die Ecke. Der Zauberer will sie auf Distanz halten, indem er einen großen Wassertank aus der Verankerung reißt und ihn auf das Fantasticar schleudert. Ding löst das Problem mit einem beherzten Schlag. Crystal sorgt dafür, daß das genau über dem Fluß (mutmaßlich dem Hudson River) geschieht, so daß kein Schaden angerichtet wird.

Crystal besitzt recht rätselhafte Elementarkräfte, das heißt, sie kann Gegenstände – und Menschen – telekinetisch bewegen und Unwetter losbrechen lassen (so wie später Storm von den X-Men). Man könnte sie wohl auch als Hexenkräfte bezeichnen. Jedenfalls stellt sie sich dem Zauberer machtvoll entgegen. Der ist auf diese Gegnerin nicht eingestellt und beginnt zu wanken. Fackel und Ding tunken ihn schließlich in die Fluten des Flusses, wo er dem zugreifenden Arm von Mr. Fantastic jedoch entrinnt und damit die Chance zu einer erneuten Revanche erhält. Der Schluß liest sich besonders chauvinistisch, obwohl das damals sicher nicht so gedacht war. Crystal wird nun offiziell bei den FV aufgenommen, was ihr Freund Johnny mit der Bemerkung kommentiert: „Sollte sich jetzt ein Superschurke blicken lassen, wird Crystal ihn mit ihrem Puderquast in die Flucht schlagen!“ Ding stand ihm schon vorher kaum nach: „Willst du dich nicht lieber als Go-Go-Girl bewerben?“

Trotz des veralteten Werte- und Gesellschaftssystems, das dieser Episode zugrundeliegt, liest sie sich sehr flüssig und gefällig. Diese Story kommt ohne größere Vorbereitungen aus, da der Zauberer eine bestens eingeführte Figur ist. Lee und Kirby können sich ganz darauf konzentrieren, wie sich Crystal im Team bewährt. Da vom Bild eines schwachen Mädchens ausgegangen wird, ergibt sich ein sehr wirkungsvoller Kontrast zu ihrem couragierten und wirkmächtigen Auftritt. Diese dramatische Grundkonstellation wird wie üblich mit einigen lockeren Sprüchen, vor allem von Ding, garniert („Wie oft müssen wir diesen Knilch denn noch verdreschen?“).

Sehr sympathisch finde ich, daß die Superkräfte, die hier eingesetzt werden, noch sehr überschaubar sind. Der Zauberer kann eigentlich nur einzelne Gebäude in New York zerstören (als er dies einmal tut, wird hervorgehoben, daß es sich um ein „abbruchreifes Kaufhaus“ handelt). Im heutigen Marvel-Universum käme ihm höchstens die Rolle einer Aushilfe zu. Das bedeutet aber nicht, daß es der Story an Dramatik mangelt. Lee und Kirby sind einfach Meister darin, ihre Figuren posen und geschwollen daherreden zu lassen (mal drohend, mal witzig). Da nehme ich auch heute noch alle Schwächen, die die Story aufweist, gern in Kauf.

Noch zwei Anmerkungen zum Schluß: Diese Monatsproduktion bringt eine Leserbriefseite, auf der eine Menge Enttäuschung, Frust und Wut über die Einstellung von sechs Marveltiteln zum Ausdruck kommt. Die Redaktion war dafür ja nicht der richtige Adressat, weil sie die Entscheidung sicherlich nicht getroffen hat. Sie konnte in den Briefen (20 wurden abgedruckt) die Bestätigung sehen, daß es noch genug Nachfrage nach deutschen Marvels gab. Ich weiß freilich nicht, wie stark die Auflage auch bei „Spinne“, „FV“ oder „Rächer“ schon gesunken war, so daß hier möglicherweise eine Fanreaktion suggeriert wurde, die längst nicht so stark war, wie es schien.

Außerdem: Ohne Aufsehen hat Williams mit dieser Produktion den Coverpreis von 1,40 auf 1,50 D-Mark erhöht (das wären heute um die 70 Cent). Dabei blieb es bis zur Einstellung von „Spinne“, „FV“ und „Rächer“; bei „Horror“, der am längsten laufenden Williams-Heftserie, wurde der Preis später noch einmal moderat angehoben. Aus heutiger Sicht erscheint die Preiserhöhung beinahe niedlich. Sie reichte wohl bei weitem nicht aus, zu den nötigen Einnahmen zu kommen. Andererseits waren das glückliche Zeiten, als das Comiclesen ein so billiges Vergnügen war.
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