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Alt 07.08.2017, 15:43   #38  
Servalan
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Peeping Tom | Augen der Angst (Großbritannien 1959/1960), Drehbuch: Leo Marks, Produktion und Regie: Michael Powell, 101 min bzw. 97 min (deutsche Fassung), FSK: 12

Das Drehbuch stammt vom Universalgelehrten und Mathematiker Leo Marks, der während des Zweiten Weltkriegs feindliche Codes entschlüsselte. Michael Powell produzierte seit den 1940ern mit seinem ungarischstämmigen Partner Emeric Pressburger in seiner Firma "The Archers" Filme, die reihenweise britische Klassiker geworden sind.
Mittlerweile hat sich auch dieser Thriller seinen festen Platz unter den besten Filmen erobert, aber das geschah über Umwege und vernichtete zunächst die Karrieren von Powell und seinem Hauptdarsteller Karlheinz Böhm.

Akademische und feuilletonistische Vergleiche mit Hitchcocks Psycho finden sich inzwischen zuhauf. Seinen hohen Status verdankt Peeping Tom jedoch eigenen Qualitäten. Obwohl der Film bei seiner Premiere von der Kritik mit Spott und Häme, Ekel und Abscheu bedacht wurde, zeichnet er sich visuell und akustisch durch eine Strenge aus, die an ein Experiment im Labor erinnert.
Besonders ersten Szenen sind so über alle Maßen pointiert, daß simpler Realismus hier bewußt aufgebrochen wird. Der Dialog wirkt eher wie ein Audiokommentar (mir fallen geniale Oneliner immer erst ein, wenn es zu spät ist), und eine der ersten Bildkompositionen macht sich über Diego Velázquez' "Las Meninas" (1656) lustig.
Vorbild für den skrupellosen Psychiater Lewis dürfte weniger Ted Bundy sondern der Erfinder des Schrebergartens gewesen sein. Der Leipziger Arzt und Hochschullehrer Moritz Schreber (1808 - 1861) traktierte seinen Nachwuchs mit "Schwarzer Pädagogik". Sohn Gustav (1839 – 1877) beging Selbstmord, während Daniel Paul (1842 - 1911) eine Psychose entwickelte. Sein Fall wurde 1903 durch Sigmund Freuds Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken einer größeren Öffentlichkeit bekannt.

Die vernichtende Kritik sorgte dafür, daß der Film entweder schnell aus den Kinos verschwand oder nur mit Schwierigkeiten ausländische Verleiher fand. In Finnland war er bis 1981 verboten. Trotz der widrigen Umstände entwickelte sich der Thriller zuerst zum Kultfilm und nach Martin Scorseses Neustart zum 20jährigen Jubiläum zum Meisterwerk.
Während sich der Kameramann Mark Lewis mit jedem Mord seiner Entdeckung nähert, passiert das Publikum nach und nach Stationen, die zeigen, wo und von wem Kameras überall verwendet werden. Die Technik (auch des Abhörens) drängt sich zwischen Mann und Frau - mit tödlichen Konsequenzen.
Auf der Straße benutzt Mark Lewis die leichte Arriflex, während er im Studio die riesige Kamera manövrieren muß. Scorsese zieht in der Dokumentation The Eye of the Beholder | Im Auge des Betrachters Parallelen zur filmischen Avantgarde der 1960ers. Er vergleicht Peeping Tom mit den Dokumenatrfilmen des Direct Cinema von Richard Leacock, Frederick Wiseman und den Maysles Brüdern sowie mit der Nouvelle Vague.

Eine besondere Schule des Sehens.
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