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Alt 07.01.2016, 14:12   #32  
Servalan
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Standard Twin Peaks

Eine Vorstellung spare ich mir: Die Serie von David Lynch und Mark Frost gehört inzwischen zum filmgeschichtlichen Allgemeingut.

Im Laufe der Jahrzehnte hat die damals epochemachende Serie deutlich an Zuspruch eingebüßt. Seit Gerüchte um eine Fortsetzung (Dritte Staffel) aufkamen, erinnerten sich etliche Fans an jene glorreiche Zeit, in der sie fast alle zur Schule gegangen waren oder an der Universität studierten, während sie jede Folge begeistert verfolgten. Darunter sind Leute, die jetzt Medien oder Kunst an der Hochschule lehren, und sich von ihrem jüngeren Selbst distanzieren.
Allgemein lautet der Tenor: Lynch sei maßlos überschätzt worden, weil der Standard der anderen Serien nicht besonders hoch gewesen ist. Als Krimi-Serie wäre Twin Peaks bestenfalls mittelmäßig gewesen, weil sie zuviel Leerlauf enthalten habe. Was Lynch damals als Masche ausreizen konnte, das gehörte heute zum Repertoire.

Zugegeben, meine Phase als treuer Fan von Lynch ist vorbei: Von Eraserhead bis zu The Straight Story konnte er machen, was er wollte, ich bin ihm gefolgt. The Straight Story war meine erste herbe Enttäuschung, weil mich die Geschichte als moralinsauer und reaktionär enttäuscht hat. Bei Inland Empire hat er sich meine letzten Sympathien verscherzt: Kalter Kaffee schmeckt mir nicht.
Das ist nur meine persönliche Einschätzung. Wer anders über Lynch denkt, bitte sehr, ich akzeptiere andere Meinungen.

Als ich Twin Peaks im Fernsehen verfolgt habe, war sie für mich (wie für die meisten anderen) eine Krimi-Serie. Nachdem ich mir die DVD-Boxen mehrmals angesehen habe, denke ich jedoch anders darüber. Denn mir gehen die überflüssigen Parts nicht aus dem Kopf. Also habe ich nach etwas gesucht, das diesen Teil Bedeutung verleiht.

In der Kriminalistik gibt es das Prinzip: Indizien immer wieder neu zu kombinieren, bis sie eine schlüssige Einheit ergeben. Je simpler alle Elemente unter einen Hut gebracht werden können, desto überzeugender ist die Lösung (die klassische Methode von Auguste Dupin und Sherlock Holmes).
Auf diese Weise bin ich zu dem Schluß gelangt, daß Twin Peaks keine Krimi-Serie im engeren Sinne ist. Vielmehr sehe sie in einer Reihe mit Filmen wie Inception, bei denen es um subjektive Innenwelten geht, in denen die Realität stark verzerrt ist (zum Beispiel Zeitdilatation). Lynchesk sehe ich sie in der Nähe von Lost Highway und Mulholland Drive, die wie Vexierbilder funktionieren.

Meiner Meinung nach befinden wir uns bei Twin Peaks im Strom des Unbewußten von jemandem, der bei einem Autounfall umgekommen ist. FBI-Agent Dale B. Cooper ist das Selbstbild dieses sterbenden Unglücksfahrers. Der Beifahrer oder die Beifahrerin scheint überlebt zu haben. Der Tote hält das für ungerecht.
Der Sterbende bzw. Tote sträubt sich gegen sein Schicksal und wehrt sich dagegen, indem er seine Gegenwart aufklärt (den Fall löst). Aber das funktioniert nicht, und Bob kann triumphieren.

Im Gegensatz zu Inception verzichten Lynch/Frost auf eine knappe Gebrauchsanweisung, stattdessen ziehen sich bestimmte Schemata wieder Running Gags durch die Serie. Weil Lynch/Frost fast jedesmal das Register wechseln, drängen die sich allerdings nie auf, sondern bleiben dezent und subtil im Hintergrund. Zur Untermauerung meiner Sichtweise möchte ich einige Indizien aufzählen, die meiner These entgegenkommen:

Laura Palmer wird in einem Body Bag gefunden ("Wrapped in plastic!").

Josie Packard hat Schwierigkeiten mit der Fremdsprache, was bei Redewendungen offensichtlich wird: Aus einem "Jet lag" wird bei ihr (im Pilotfilm) ein "biographical lag" (Biographische Lücke).
Zwei der umfangreichsten Abschweifungen spielen diese Methode an Nebenfiguren durch:
1) Nadine Hurley spult ihr Leben bis zu ihrer Schulzeit zurück und löscht alles, was sie irritieren könnte.
2) Benjamin Horne macht sich lächerlich, indem er in ein Rollenspiel des Amerikanischen Bürgerkriegs abtaucht (und sein Geschäft vernachlässigt). Um das zu verstehen, sind Englischkenntnisse erforderlich. Den Impuls für dieses Abtauchen in eine Scheinwelt liefert Leland Palmers Tod. Ben Hornes Versuch, die Geschichte umzuschreiben und die Südstaaten gewinnen zu lassen, sehe ich als Wortspiel, das in die Tat umgesetzt wird. Der historische Hintergrund wird zweitrangig. Die Südstaaten sind das Land von General Robert E. Lee - und das lese ich als "Lee-Land" ~ Leland, dessen Sieg mit Palmenzweigen gekrönt wird ~ Palmer. Durch diese Zeremonie wird der Bann gebrochen.
Benjamin Horne braucht Leland Palmer nicht mehr, weil der durch diese irrwitzige Methode zu einem Teil von ihm selbst geworden ist.

Mein entscheidendes Indiz ist die Lücke von zwei Tagen:
Cooper findet eine Leiche im Sheriffsbüro (gespielt von Kyle MacLachlans Vater), die Windom Earle durch ein geschicktes Spiel mit der Leichenstarre für seine Zwecke bearbeitet hat.
Major Garland Briggs verschwindet für zwei Tage spurlos.
Während die Folgen sonst jeweils einen Tag abbilden, gibt es nach der Enttarnung Bobs und Leland Palmers Tod eine Lücke von zwei Tagen.

Geändert von Servalan (09.01.2016 um 13:04 Uhr)
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