Thema: Filmklassiker
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Alt 28.04.2024, 06:07   #2049  
Peter L. Opmann
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Ein Fremdkörper im Werk von Charlie Chaplin – so hat das amerikanische Publikum sein Melodram „A Woman of Paris“ (1923) gesehen. Nachdem „The Kid“ 1920 etwa eine Stunde lang war, war dies sein erster Film, der beinahe die Standardlänge von 90 Minuten erreichte; danach brachte er keine Kurzfilme mehr ins Kino. Und es war der erste Film, den er für den schon 1919 gegründeten Verleih United Artists produzierte. Das muß man berücksichtigen, wenn man die ungewöhnliche Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von „A Woman of Paris“ betrachtet. Ich habe den Film 1990 aufgenommen (lief damals ohne deutsche Übersetzung der Zwischentitel) und seitdem nicht noch einmal gesehen. Ich fand ihn enttäuschend und hatte im Gedächtnis, daß es ein sehr handlungsarmer Film sei, mit anderen Worten: ein Langweiler. Das stimmt so gar nicht. Aber es ist ein Werk, bei dem sich Chaplin auf die Arbeit hinter der Kamera beschränkte und keine lustige Trampfigur auftaucht. Weil die Leute von ihm aber nur den Tramp sehen wollten, wurde es ein geschäftlicher Reinfall, und Chaplin hielt den Film dann bis 1976 unter Verschluß.

Was die Handlung betrifft: Edna Purviance, Partnerin in vielen seiner Slapstickfilme, steht als junge Französin zwischen zwei Männern. Zunächst will sie Carl Miller heiraten, einen einfachen Jungen vom Lande. Aber sowohl ihre als auch seine Eltern sind gegen die Verbindung. Sie wollen gemeinsam fliehen, doch während sie am Bahnhof wartet, stirbt sein Vater, und er kann nicht weg. Sie fährt allein nach Paris und lernt dort den reichen Dandy Adolphe Menjou kennen, dessen Geliebte sie wird. Sie hat nun ausgesorgt. Zufällig begegnet sie später in Paris Miller wieder, der sich hier als Kunstmaler durchschlägt. Beide haben sich durch die Fährnisse des Lebens verändert. Sie erinnern sich zwar an ihre alte Liebe, aber begegnen sich distanziert. Purviance merkt durch die Begegnung jedoch, daß ihr Luxusleben sie nicht befriedigt.

Als sie aber Miller erneut aufsucht, wird sie Zeugin eines Gesprächs von ihm und seiner Mutter, bei dem er ihr versichert, er werde sie nie heiraten. Sie war zuvor nicht so sehr gegen die Heirat wie sein Vater, sieht sie aber nun als zwielichtige Gesellschaftsdame. Purviance kehrt enttäuscht zu Menjou zurück, der sich sicher war, daß sie auf seine Versorgung nicht verzichten wird. Miller will sich noch einmal mit Purviance im Vertrauen aussprechen. Als er aber merkt, daß sie Menjou über seine Absichten informiert hat, erschießt er sich. Purviance kommt endlich zur Besinnung, verläßt ihren Gönner und kümmert sich nun um Millers Mutter. Sie merkt: Nur wenn man für andere da ist, kann man Zufriedenheit und Glück finden.

Ein paar abgedrehte Restaurant- und Partyszenen zeigen deutlich Chaplins Handschrift; sie sind durchaus komisch. Er macht sich über manche Verrücktheit der 1920er Jahre lustig. Laut der Biografie von David Robinson ließ er sich von eigenen Erlebnissen und realen Personen in Hollywood zu der Filmhandlung inspirieren. Insgesamt ist das ein zu Herzen gehender, tragischer und trauriger Film, der vor allem zum Ausdruck bringt, daß man den richtigen Moment, eine Entscheidung zu treffen, verpassen kann. Die Figuren in „A Woman of Paris“ sind vielschichtig angelegt. Sowohl Miller als auch Menjou haben gute und schlechte Eigenschaften; es gibt keine eindeutige Schwarz-weiß-Zeichnung. Purviance ist eine Frau, die sich durch eine verlockende Glitzerwelt von ihrem eigentlichen Lebensplan abbringen läßt und dann lange hin und her schwankt. So etwas war damals im Kino ziemlich neu. Man muß allerdings sagen, der Hintergrund der Figuren wird nicht aufgehellt. Warum die Eltern gegen die Heirat sind, ist unklar. Und bevor man Miller in seinem Atelier sieht, weiß man nicht, daß er sich fürs Malen interessiert. Noch mehr ist Purviance eine Frau ohne Vergangenheit. Es ist ein früher psychologischer Film, aber die Psychologie wurde in der Filmgeschichte später noch verfeinert.

Ich denke, Chaplin wollte für die United Artists (ein Zusammenschluß der Stars Douglas Fairbanks, Mary Pickford, Chaplin und des Regisseurs D. W. Griffith) etwas Anspruchsvolleres machen als das, was er sonst ablieferte. Vielleicht war ihm nicht klar, daß er bereits ein Markenartikel war, und wenn „Chaplin“ draufstand, mußte für das Publikum auch Chaplin drin sein. Dadurch erreichte er auch nicht, was er sich vorgenommen hatte, nämlich seine ehemalige Freundin Edna Purviance zu einem ernstzunehmenden Star zu machen. Sie beendete bald darauf ihre Karriere. Zum Star wurde dagegen Adolphe Menjou. Er fand durch diesen Film zu der Rolle, mit der er von da an identifiziert wurde. Chaplin behielt seine Unabhängigkeit von Hollywood, wurde aber in allen folgenden Filmen bis zum „großen Diktator“ wieder zum Hauptdarsteller und verließ sich nicht mehr allein auf große Gefühle. „A Woman of Paris“ hatte indes auf viele Regisseure, europäische wie amerikanische, großen Einfluß.
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