Thema: Filmklassiker
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Alt 18.04.2024, 06:09   #2037  
Peter L. Opmann
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Der zweite Film auf der Cassette ist „Jagd auf James A.“ (1932) von Mervyn LeRoy. Er gehört zu den Gefängnisfilmen, man könnte darin eine Unterart des Gangsterfilms sehen. Unter seinem Originaltitel „I am a Fugitive from a Chain Gang“ ist er vielleicht bekannter. 1933 lief er in Deutschland auch unter dem originalgetreuen Titel „Ich bin ein entflohener Kettensträfling“. Wie „Die wilden Zwanziger“ zeigt dieses Werk quasidokumentarisch, wie nach dem Ersten Weltkrieg das Gangstertum aufblüht. Hier geht es um ein Einzelschicksal, und die Zielrichtung ist eine Anklage gegen den Strafvollzug in Arbeitslagern, wie er in manchen US-Staaten üblich war. Ich finde den Film dadurch eindringlicher als „Die wilden Zwanziger“. Manches an LeRoys Arbeit ist allerdings in meinen Augen auch recht unglaubwürdig.

Paul Muni (der auch den originalen Scarface gespielt hat) kehrt hochdekoriert aus dem Krieg zurück. Sein Arbeitgeber hat ihm seinen Buchhalter-Job reserviert. Aber der Krieg hat Muni verändert. Er möchte jetzt etwas Sinnvolles tun und Bauingenieur werden. Nun erfährt er jedoch, daß der Berufswechsel nicht so einfach ist. Ohne Arbeit zieht er durch die USA. Ein Mann, den er zufällig trifft, zieht ihn in einen Überfall auf ein Schnellrestaurant hinein. Aber beide werden sofort von der Polizei erwischt – der andere wird erschossen, Muni trotz Unschuldsbeteuerung zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Gefängnis, irgendwo in der Gegend von Kentucky, hat den einzigen Zweck, den Willen der Häftlinge zu brechen. Schwere Mißhandlungen durch das sadistische Wachpersonal sind an der Tagesordnung. Viele Gefangene büßen ihre Gesundheit ein, manche sogar ihr Leben. Muni beschließt zu fliehen, und mit Hilfe eines Haftkumpels (Edward Ellis) gelingt es ihm. Muni verändert zuerst sein Äußeres: Rasiert, mit Anzug und Krawatte, ist er nicht mehr im Suchfeld seiner Verfolger.

Er geht nach Chicago, wo er endlich unter falschem Namen Arbeit findet, und das sogar bei einer Baufirma. Er beginnt als einfacher Arbeiter, aber bewährt sich und steigt bis zum angesehenen Bauleiter auf. Seine Vermieterin (Glenda Farrell) hat ein Auge auf ihn geworfen. Er macht ihr klar, daß er sie nicht liebt, aber sie setzt ihn unter Druck, denn sie kennt seine Vergangenheit. Um sie ruhigzustellen, heiratet er sie. Bald darauf lernt er jedoch seine große Liebe (Helen Vinson) kennen. Er bittet Farrell um die Scheidung, doch sie hetzt die Polizei auf ihn. Als der (nicht genannte) Südstaat seine Auslieferung verlangt, macht er die Zustände in den dortigen Straflagern öffentlich. Ihm wird darauf ein Deal angeboten: Er soll noch einmal für 90 Tage pro forma ins Gefängnis gehen, dann werde er begnadigt. Muni will reinen Tisch machen und geht darauf ein. Im Gefängnis merkt er jedoch schnell, daß der Südstaaten-Gouverneur keineswegs an eine Begnadigung denkt, sondern sich an ihm rächen will. Muni flieht erneut, aber sein bürgerliches Leben ist zerstört. Noch einmal sucht er Vinson auf, um sich von ihr zu verabschieden. Er kann sich jetzt nur noch als Krimineller durchschlagen.

Die Inszenierung kommt mir noch heute ziemlich hart vor. Den Kettensträflingen ergeht es nicht besser als antiken Galeerenruderern, und die Willkür und Ungerechtigkeit im Umgang mit ihnen wird sehr herausgestellt. Die spannendste Passage ist für mich Munis erste Flucht, bei der er zu Fuß den Suchmannschaften und ihren Bluthunden entkommen muß. Beim zweiten Mal bringt er einen Lastwagen in seine Gewalt. Die melodramatischen Elemente des Films sind dagegen nicht so gut gelungen. Warum hängt sich eine Frau an ihn, mit der er nicht zusammenleben will? Was verspricht sie sich davon? Seltsam auch, daß er ihr gegenüber sagt, er sei nur an seiner Arbeit interessiert. Bei der nächsten Gelegenheit läßt er sich jedoch gleich mit einer anderen Frau ein. Beides trägt wesentlich zu den tragischen Verwicklungen bei, aber wirkt doch auf mich sehr konstruiert.

Was ich nicht beurteilen kann: Ist es möglich, daß ein Gouverneur öffentlich verspricht, einen Delinquenten zu begnadigen, und es dann einfach nicht tut? Gibt es in Chicago niemanden, der Muni helfen kann, nachdem er im Knast schmoren muß? Und es wirft ein seltsames Licht auf die amerikanische Justiz, wenn Muni nach seiner zweiten Flucht keine Chance mehr hat, seinen Fall zu klären. Das alles spricht nicht unbedingt dafür, daß das Geschehen wirklich dokumentarisch eingefangen ist (angeblich liegt eine wahre Geschichte zugrunde). Aber natürlich werden hier Mißstände im US-Strafvollzug dieser Zeit ungeschminkter gezeigt, als das sonst in Hollywood üblich gewesen sein dürfte. Ich kenne einen weiteren Film dieser Zeit, der ebenfalls Mißstände klar anprangert: „Kinder auf den Straßen“ von William A. Wellman. Beide sind Warner-Produktionen – dieses Studio war damals für seine Sozialkritik bekannt.

Geändert von Peter L. Opmann (18.04.2024 um 06:15 Uhr)
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