Thema: Filmklassiker
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Alt 14.04.2024, 06:25   #2035  
Peter L. Opmann
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„Unterwelt“ (1927) von Josef von Sternberg wird als der erste Gangsterfilm bezeichnet. Das Genre (ob es nach Martin Scorsese noch weitergeführt wird, ist freilich unsicher) hat sich Anfang der 1930er Jahre herausgebildet. Man denke an Filme mit James Cagney, Edward G. Robinson oder Humphrey Bogart. Sternbergs Film fehlen noch viele genretypische Elemente. Es war wohl der erste Film, der einen Gangster ganz in den Mittelpunkt stellte. Er ist aber in verschiedener Hinsicht bemerkenswert, und er war damals auch ein Überraschungserfolg.

Sternberg hatte zwei größere Mißerfolge hinter sich, als er „Unterwelt“ drehte. Zunächst sollte er für Metro einen Film mit der sehr launenhaften Mae Murray machen und zerstritt sich so mit ihr, daß sein Vertrag aufgelöst wurde. Dann bekam er von Charles Chaplin den Auftrag, „A Woman of the Sea“ mit seiner langjährigen Partnerin Edna Purviance zu drehen; mit dem Ergebnis war Chaplin so unzufrieden, daß er alle Filmkopien vernichtete. „Unterwelt“ geht auf eine Idee von Ben Hecht zurück, der als Reporter in Chicago gearbeitet hatte und daher in die dortige Gangsterszene Einblick hatte. Sternberg konnte Paramount von dem Projekt überzeugen, doch Hecht wollte am Ende im Vorspann nicht mehr genannt werden (bekam aber 1929 einen Oscar für seine Story). Das Studio erwartete einen Reinfall und sparte sich die Werbung für den Film. Laut Sternberg erlebte das Premierenkino in New York jedoch allein durch Mundpropaganda einen solchen Publikumsansturm, daß es Tag und Nacht geöffnet blieb und den Film ununterbrochen vorführte.

In meinen Augen sind hier zwei Geschichten zusammengefügt. Die erste handelt von der Konfrontation zweier Gangsterbosse – George Bancroft und Fred Kohler. Beide sind nicht sehr helle, machen aber permanent auf dicke Hose; das ist eigentlich das einzige Merkmal, das sie als Gangster ausweist. Beide sind überzeugt, daß sie niemals eines Verbrechens überführt werden können. Worin ihre dunklen Geschäfte bestehen, bleibt offen. Kohler versucht in einer Szene, die mich sehr an „Rio Bravo“ erinnert, Bancrofts Freund, den philosophierenden Trinker Clive Brook, zu demütigen, indem er in einer Kneipe einen Geldschein in einen Spucknapf wirft, und Brook, der dringend einen Drink braucht, soll ihn herausfischen. Doch Bancroft weist Kohler in die Schranken. Aus Rache macht sich Kohler bei einem Ball an Bancrofts Geliebte, Evelyn Brent, heran und will sie vergewaltigen. Da verfolgt ihn Bancroft bis in dessen Blumengeschäft und erschießt ihn.

Dafür wird er vor Gericht gestellt. Der Richter betont, daß es endlich gelungen sei, Bancroft das Handwerk zu legen. Er wird zum Tod durch den Strick verurteilt. Hier setzt die zweite, eine Dreiecksgeschichte der großen Gefühle ein. Brent und Brook kommen sich näher, aber Brook wagt es nicht, sich an der Freundin des großen Bosses zu vergreifen (erinnert ein bißchen an Uma Thurman und John Travolta in "Pulp Fiction"). Und durch seinen noblen Verzicht steigt er noch in ihrem Ansehen. Sie bleiben jedenfalls sauber und planen gemeinsam, Bancroft aus dem Gefängnis zu befreien. Der Coup schlägt aber fehl. Bancroft hat inzwischen durch infame Gerüchte erfahren, daß sich Brent und Brook angeblich munter miteinander vergnügen. Ihm gelingt selbst der Ausbruch, und er will voll Eifersucht mit den beiden abrechnen. Die Polizei ist ihm jedoch hart auf den Fersen. Als er das Paar stellt, erkennt er, daß sie ihm nach wie vor treu ergeben sind. Er ermöglicht ihre Flucht, während er sich nach einer schweren Schießerei schließlich festnehmen läßt. Die Polizei sagt: „Alles, was du gewonnen hast, ist eine Stunde Aufschub.“ Darauf Bancroft: „Ich mußte etwas herausfinden. Diese Stunde ist mir mehr wert als mein ganzes Leben.“

Letztlich geht es nicht um das Gangstertum (und das hat vermutlich auch Hecht enttäuscht), sondern um eine Liebesgeschichte vor einer exotischen Kulisse. Aber manches, was einen Gangsterfilm ausmacht, ist trotzdem schon da: Der Gangster als Identifikationsfigur, sein Ehrenkodex, die Rivalität zwischen Gangsterbanden, der Umstand, daß der Gangster am Ende stirbt (wenngleich das hier nicht gezeigt wird). George Bancroft ist zwar ein Mordskerl, aber alles andere als ein typischer Gangster. Er hätte später vielleicht eben noch als Killer getaugt, aber auch so ein Killer sollte nicht auf den Kopf gefallen sein. Zwischen ihm und einem Don Corleone liegen Welten. Sehr seltsam fand ich auch die Mitwirkung von Slapstickkomiker Larry Semon. Er spielt ein Mitglied von Bancrofts Bande, aber in Slapstick-Manier. Ich glaube nicht, daß so etwas in einem späteren Gangsterfilm noch einmal vorkam. Fazit: Filmgeschichtlich ist „Unterwelt“ sehr interessant, aber er paßt eher in Sternbergs Werk (später mit Marlene Dietrich) als in die Geschichte des Gangsterfilms. Und noch etwas zur Filmlänge: In USA ist „Unterwelt“ nur etwa 80 Minuten lang, und so ist er auch in youtube zu finden. Die deutsche Fassung hat dagegen 105 Minuten. Warum? Da bin ich überfragt.
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