Thema: Filmklassiker
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Alt 30.03.2024, 06:43   #1990  
Peter L. Opmann
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Jetzt zu einem Stoff, der mehrmals verfilmt worden ist: Victor Hugos „Glöckner von Notre Dame“. Diesmal vergleiche ich aber nicht Original und Remake, sondern die klassische Verfilmung von William (Wilhelm) Dieterle von 1939 mit der aufwendigsten Neufassung, der von Jean Delannoy von 1956, Es gab bereits mehrere Stummfilmversionen, davon eine bemerkenswerte von 1923 mit Lon Chaney als Glöckner, die man sich in der englischen wikipedia ansehen kann. Das Remake von 1956 war eine französische Produktion, und es ist einzusehen, daß die Franzosen gern einen Film nach diesem bedeutenden Roman drehen wollten. Davon abgesehen aber gilt das Werk von 1939 mit Charles Laughton in der Rolle des Glückners aber als schwer zu übertreffen. Deshalb kam später hauptsächlich noch ein Disney-Zeichentrickfilm.

Der Dieterle-Film entstand bei RKO, dem zuletzt gegründeten der großen Studios. Für RKO war es mit zwei Millionen Dollar eine der teuersten Produktionen der 1930er Jahre. Aber obwohl sich 1939 die Großfilme in den amerikanischen Kinos drängten (unter anderem „Vom Winde verweht“, „Das zauberhafte Land“, „Ringo“, „Sturmhöhe“, „Die wilden Zwanziger“ und „Mr. Smith geht nach Washington“), machte der „Glöckner“ ordentlich Gewinn. Obwohl an der Roman-Handlung einiges verändert wurde (am Drehbuch schrieb der deutsche Schriftsteller Bruno Frank mit), gilt er als die Verfilmung, die der Vorlage am meisten gerecht wird.

Es ist sozusagen eine Vier-, in gewissem Sinn sogar Fünfecksgeschichte. In einer Ecke haben wir Maureen O’Hara in ihrer ersten Hauptrolle als verführerische Zigeunerin (ich weiß, dieser Begriff ist inzwischen problematisch) Esmeralda. Um sie herum kreisen von Liebe entflammt der Poet Gringoire (Edmond O’Brien), der königliche Soldat Phoebus (Alan Marshal) und der Kirchenmann Frollo (Cedric Hardwicke). Und auch der behinderte, bucklige Quasimodo (Laughton) und Esmeralda fühlen sich irgendwie zueinander hingezogen. Im Paris des Jahres 1482, also an der Schwelle zur Neuzeit, wollen die Pariser alles fahrende Volk aus der Stadt vertreiben. Esmeralda findet in Notre Dame Kirchenasyl, gerät jedoch mehrfach in Schwierigkeiten. Zunächst heiratet sie pro forma Gringoire, den sie damit vor dem Tod bei der Bettlerorganisation von Paris bewahrt. Attraktiv findet sie allerdings den Hauptmann Phoebus, der ihr jedoch nur Treue für eine Nacht versprechen will. Kurz darauf wird er erstochen aufgefunden – der Verdacht fällt natürlich auf Esmeralda.

In Wirklichkeit ist Frollo der Mörder aus Eifersucht, der aber zugleich so komplexbeladen ist, daß er am lautesten die Todesstrafe für Esmeralda fordert (in seinen Augen ist sie das personifizierte Böse). Ihr Geständnis wird durch Folter erzwungen. Als sie aber unter dem Galgen steht, schwingt sich Quasimodo von Notre Dame herab und bringt sie auf den Türmen der Kathedrale in Sicherheit. Trotz des Schutzes der Kirche fordert der aufgestachelte Mob ihren Tod. Bettler und Handwerker der Stadt versuchen vereint, Notre Dame zu stürmen, aber Quasimodo läßt Steine und siedendes Blei auf sie herabregnen. Frollo will Esmeralda nun eigenhändig umbringen, aber im Kampf mit Quasimodo wird er in die Tiefe gestürzt. Esmeralda erhört nun endlich Gringoire, und Quasimodo wünscht sich, aus Stein zu sein wie die Fassadenfiguren seiner Kirche.

„Der Glöckner von Notre Dame“ ist keine richtige Abenteuergeschichte. Der Hauptakzent liegt auf der Darstellung einer Welt, die sich am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit befindet. Das wird durch die Druckerpresse symbolisiert, die Gringoire zur Verbreitung von Gedichten nutzt, mit denen er die Masse (zum Guten) beeinflußt. Ein recht sympatisch gezeichneter König Ludwig XI. (Harry Davenport) nimmt das anerkennend zur Kenntnis. Eindrucksvoll ist die Darstellung des Glöckners; Laughton, der eine angemessen grauenerregende Maske trägt, legt ihn ähnlich wie Karloffs Monster von Frankenstein an: verachtet, mißverstanden, aber zu menschlichen Gefühlen fähig. Er spielt den Quasimodo auch als geistig zurückgeblieben mit nur wenigen Sätzen Dialog, was sicher schwieriger ist, als einen klugen Menschen darzustellen. Ein Plus des Films sind zudem die Nachtszenen, die an den Film Noir oder auch an deutsche Horrorfilme der Stummfilmzeit erinnern. In meiner Literatur wird „Der Glöckner von Notre Dame“ aber nicht immer als Horrorfilm einsortiert. Die Ansagerin weist übrigens zu Beginn darauf hin, daß der Film Anspielungen auf Nazi-Deutschland enthält, was für mich nicht so deutlich wird. Man sieht deutlicher Parallelen zu unserer Zeit mit der teils aufgehetzten, offen ausländerfeindlichen Volksmenge.Vielleicht kommen ein paar Besonderheiten des Films noch zur Geltung, wenn ich zum Vergleich die Fassung von 1956 sehe.
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