Thema: Filmklassiker
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Alt 02.11.2022, 07:51   #136  
Peter L. Opmann
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An „Viridiana“ (1961) von Luis Bunuel habe ich nur bruchstückhafte Erinnerungen. Ich muß mich also bei der Besprechung auch auf mir vorliegende Inhaltsangaben stützen. Ich möchte den Film aber als Klassiker anführen, weil er mich, als ich ihn gesehen habe, sehr berührt hat. Lebhafte Erinnerungen habe ich vor allem an den Teil, der ein Festessen von Bettlern (um es neutral auszudrücken) im Haus der Titelheldin zeigt. Ich habe mich lange Zeit selbst mit Obdachlosen beschäftigt – freilich mit etwas Abstand – und habe erfahren, daß Bunuel da etwas Wichtiges und Zutreffendes erfaßt und wiedergegeben hat.

Ich habe den Film leider nicht selbst, würde ihn aber gern mal wieder sehen. Auf youtube gibt es Ausschnitte und den Trailer, allerdings, soweit ich gesehen habe, nichts von der deutschen Synchronisation, sondern meist auf Spanisch. Als ich „Viridiana“ im Fernsehen gesehen habe, hat das Werk mich aber so beschäftigt, daß ich mir Notizen gemacht und die Ankündigung der TV-Zeitschrift ausgeschnitten habe. Es war am 4. Februar 1985.

In dem Programmheft stand: „Einsam und zurückgezogen lebt der Gutsherr Don Jaime auf seinem Landsitz. Seine Frau ist vor 30 Jahren in der Hochzeitsnacht an einem Herzschlag gestorben. Nur zwei Verwandte sind Don Jaime geblieben: sein vorehelicher Sohn Jorge und die Nichte Viridiana. Sie wächst in einem Kloster auf und will in Kürze das Gelübde ablegen. Zuvor jedoch lädt der Onkel sie zu sich ein. Wegen ihrer Ähnlichkeit mit seiner Frau ist er von Viridiana fasziniert. Don Jaime versucht die Novizin zu überreden, bei ihm zu bleiben. Aber alle seine Bemühungen sind erfolglos. Als er schließlich auf eine infame Lüge verfällt, verläßt Viridiana entsetzt das Haus. Der von Gewissensbissen geplagte Don Jaime zieht eine schreckliche Konsequenz.“

Dies beschreibt nur die Exposition des Films. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt die Brisanz der Handlung noch nicht richtig erfassen. Sicher hat Bunuel vieles auch nur angedeutet oder symbolisch verschlüsselt. Nachdem Don Jaime versucht hat, Viridiana in die Rolle seiner verstorbenen Frau zu pressen, und ihr vorgemacht hat, er habe sie betäubt und vergewaltigt, erhängt er sich. Denn er konnte sie auch damit nicht davon abhalten, ins Kloster zurückzukehren. Viridiana tritt zusammen mit Jorge das Erbe an. Sie ist eine aufrichtig fromme (um nicht zu sagen: frömmlerische) Frau und will nun seinen Besitz den Armen zur Verfügung stellen. Sie gibt ihnen Unterkunft und Nahrung. Aber die Bettler danken es ihr schlecht. Sie dringen in Viridianas Wohnbereich ein und feiern eine wilde Orgie mit allen erdenklichen Ausschweifungen. (Einmal sind sie nach dem Muster des letzten Abendmahls um den Tisch gruppiert.) Als Viridiana dazukommt, tun die Bettler ihr auch Gewalt an.

Im Grundsatz habe ich solches Verhalten selbst mitbekommen. Ihre prekäre Lage bringt Obdachlose dazu, nicht immer zu warten, bis ihnen geholfen wird, sondern sich selbst zu holen, was sie brauchen. Wenn sie schon länger auf der Straße gelebt haben, sind sie zu einer bürgerlichen Lebensweise nicht mehr fähig. Wenn eine Hilfsorganisation ihnen eine Wohnung besorgt, kann es vorkommen, daß sie von ihnen verwüstet wird. Sie entfachen zum Beispiel im Wohnzimmer ein Lagerfeuer, damit es ein bißchen wärmer wird. Natürlich bekommen solche Leute dann so schnell keine Wohnung mehr, auch wenn sie nichts anderes getan haben, als was sie von der Straße her kannten.

Der Schluß des Films hat ebenfalls Bekanntheit erlangt. Jorge ist ebenso scharf auf Viridiana wie sein Vater. Deshalb ist ihm seine Freundin davongelaufen. Weil Viridiana ihn aber keinesfalls erhören will, beginnt er ein Verhältnis mit dem Hausmädchen Ramona. Viridiana kommt dazu, und Jorge macht ihr vor, er spiele nur mit ihr Karten. Darauf nimmt sie an dem Spiel teil – ein Bild für ein Dreiecksverhältnis.

Bunuel, den „Atheist von Gottes Gnaden“, interessiert vor allem, wie weit christliche Barmherzigkeit geht und ob die Welt besser wäre, wenn sie mehr geübt würde. Das kann man sich auch ansehen, wenn man seine Weltsicht nicht teilt. Die Probleme, die Bunuel mit der Zensur hatte, rühren aber von den Bildern her, die er verwendet. So deutlich durfte zu dieser Zeit ein „unmoralisches“ Begehren nicht dargestellt werden, und natürlich durfte eine christliche Ikonografie nicht in solche Zusammenhänge gestellt werden. Bunuel macht allerdings christliche Überzeugungen nicht einfach schlecht. Laut wikipedia hatte der spanische Diktator Francisco Franco Bunuel eingeladen, diesen Film in seinem Land zu drehen. Seit 1946 hatte Bunuel in Mexiko gelebt. Hinterher ließ Franco jedoch „Viridiana“ sofort verbieten. Er wurde in Spanien erst 1977 gezeigt. Bei den Filmfestspielen in Cannes wurde „Viridiana“ aber schon 1961 mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet.

Geändert von Peter L. Opmann (02.11.2022 um 08:17 Uhr)
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