Thema: Filmklassiker
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Alt 03.04.2024, 06:13   #2006  
Peter L. Opmann
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Nun war ich neugierig auf den Lon Chaney-Glöckner, den Stummfilm (1923) von Wallace Worsley, den es auf youtube zu sehen gibt. Er wurde bereits nach 30 Jahren gemeinfrei. In meinen Augen hält er dem Vergleich mit den beiden Tonfilmen stand. Er setzte die Standards, das heißt, die entscheidenden Szenen sind ähnlich gestaltet wie bei den späteren Versionen. Jeder der drei Filme erzählt seine Geschichte etwas anders. Jedesmal stehen die Figuren des Quasimodo und der Esmeralda im Mittelpunkt, und jeder Film nimmt ein paar andere Details des Romans hinzu – werkgetreu ist Victor Hugos Werk wohl nicht verfilmbar, jedenfalls nicht als Hollywood-Spektakel.

Zunächst zu den Glöckner-Masken: Stets ist das rechte Auge Quasimodos abnormal: Chaney hat ein Glubschauge, Charles Laughton ein Triefauge, und bei Anthony Quinn ist es verschlossen. Chaney hat zudem ein Haifisch-Gebiß. Insgesamt bleibt sein Gesicht unter der Maske beweglicher als das von Laughton, und er zieht damit ziemlich eindrucksvolle Grimassen. Seine Perücke erinnert mich ein wenig an Pumuckl, aber von dieser Figur wußte man vor 100 Jahren noch nichts. Von der Körperstatur her hat Chaney sowohl von der Laughton- als auch von der Quinn-Figur etwas. Seine Bewegungen sind seiner Verkrüppelung entsprechend, aber an der Kirchenfassade ist er – wie Quinn – erstaunlich gelenkig. Chaney läutet die Glocken meist, indem er am Glockenseil zieht. Erst am Ende, als er Esmeralda in Sicherheit gebracht hat, springt er voll Freude auf die Glocke und schaukelt mit ihr. Dieses Bild, das Glocke und Glöckner vereint, wurde dann bestimmend.

Der Dichter Gringoire ist in diesem Film nur eine Nebenfigur. Phoebus (Norman Kerry) gibt mit Esmeralda ein echtes Liebespaar ab, und sie erleben auch ein Happy End. Der Bettlerkönig (Ernest Torrence) und der Kirchenmann (Brandon Hurst) sind hier echte Bösewichter und enden folgerichtig beide im Tod. Esmeralda selbst (Patsy Ruth Miller) ist eher verfolgte Unschuld als heißblütige Tänzerin; das mag dem Geschmack der Zeit entsprechen. Ihrer Liebesgeschichte mit Phoebus wird auffallend breiter Raum gegeben, aber die beiden müssen sich ja am Ende finden. Ein Nebenstrang, der in den beiden anderen Filmen fehlt, ist die Geschichte ihrer Mutter, der sie als Baby geraubt wurde und die sie erst wiederfindet, als sie auf dem Weg zur Hinrichtung ist. Danach wird das aber nicht weiterverfolgt.

Auch König Ludwig XI. wird nur kurz beachtet. Die Bettler wollen zwar die Herrschaft des Adels brechen und belagern aus diesem Grund Notre Dame (?), aber auch dieses Motiv verliert der Film bald aus den Augen. Ähnliche Unstimmigkeiten habe ich aber auch in den beiden Tonfilmen bemerkt. Soweit sich die Filme auf die historischen Zusammenhänge einlassen, müssen sie wohl daran scheitern, alle Motive stimmig zusammenzufügen. Dieser Stummfilm-„Glöckner“ war bereits ein großer Kassenerfolg, einer der erfolgreichsten Universal-Filme der gesamten Stummfilmzeit. Ihm vorausgegangen sind laut der englischen wikipedia sechs andere Verfilmungen; das waren allerdings zum Teil nur Zehn- oder Fünfzehn-Minuten-Filmchen. Diese Fassung ist genauso lang wie die 1939er Produktion und arbeitete auch schon mit aufwendigen Kulissen. Lon Chaney machte sie endgültig zum Superstar. Er starb 1930 mit 47 Jahren an Lungenkrebs; es bleibt offen, ob er auch ein Tonfilm-Star hätte werden können.
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