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Alt 07.01.2017, 20:00   #113  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Mythen & Legenden II: Du bist, was du liest - oder doch nicht?

Bitte nicht wundern, wenn der indizierte Titel in #111 irgendwann plötzlich verschwindet. Mit dem Indizierung verhält sich nämlich wie mit dem Index Librorum Prohibitorum der römischen Inquisition, der selbst auf dem Index stand.

Dieses absolute Sprechverbot geht von der Annahme aus, dass jede Erwähnung für das betreffende Werk Werbung macht. Diese Vorsicht hat gute Gründe, denn die verbotenen Früchte schmecken am süßesten. Und ja, es gibt Bibliophile und Bibliomane, die verbotene Werke sammeln.
Wichtig ist dabei jedoch, wer welches Werk wann indiziert hat. Manchmal kann das ein Qualitätsmerkmal sein.
Wer 1933 bei den nationalsozialistischen Bücherverbrennungen auf dem Scheiterhaufen gelandet ist, kann heute wieder wiederentdeckt werden und ist weltanschaulich rehabilitiert. Ich verweise beispielsweise auf das Projekt „Bibliothek verbrannter Bücher“ beim Olms Verlag.

Bis vor wenigen Jahrzehnten mag das eher gegolten haben als heute. Denn schon damals konnte jemand Bücher geschenkt bekommen, irgendwo gefunden haben oder mal aus Neugier in etwas hineinschnuppern.
Seit durch den Siegeszug von ZVAB, booklooker und abebooks der Markt antiquarischer Bücher durcheinander gewirbelt wurde, sind sogar seltenere Bücher fast wertlos geworden. Statt die Bücher beim Umzug für teures Geld mitzunehmen, wandern sie in Grabbelkisten auf dem Bürgersteig: "Zu verschenken!"

Ein Teil des Publikums sucht sich seine Lektüre, um sich die eigene Sicht der Dinge bestätigen zu lassen. Das müssen keine Pamphlete, Essays und Sachbücher sein, zahlreiche Bestseller in der Belletristik bieten genug Soap Opera fürs Herz.

Gerade weil der Buchhandel die Bestseller offensiv bis agggressiv bewirbt, schaue ich mir den einen oder anderen Band genauer an. Außerdem stromere ich durch quer das ausliegende Sortiment, überfliege hier und da mal den Klappentext oder einige Zeilen. Bis ich mir spontan ein Buch kaufe, muß einiges passieren.
Und wenn ich ein Buch gelesen habe ich, bin ich nicht sofort mit dessen Ideen infiziert und missioniere andere Leute ...

In seinem Blog Le dernier blog - Hyperbate hat Jean-Noël Lafargue (einige seiner Artikel erscheinen auf deutsch in Le Monde diplomatique) am 4. Dezember 2016 einen interessanten Eintrag dazu verfaßt (leider nur auf Französisch!).
Den Anlaß lieferte ihm die Verurteilung eines 22jährigen Marokkaners. Weil der eine indizierte Webseite zu oft besucht hatte, verurteilte in die Justiz als Terrorist und schob ihn ab.

Lafargue bringt nun seine Erfahrung ins Spiel und zeigt, wie fragwürdig diese Art ist, über jemanden den Stab zu brechen oder nicht. Er gesteht, dass er ziemlich leichtfertig seine Schlüsse zieht.
Wer in der Buchhandlung in seinen wissenschaftlichen Büchern oder anderen Werken schmökert, den schätzt er sehr. Wenn diejenige oder derjenige jedoch in eine Illustrierte, leichte Lektüre mit einem kitschigen Herz-Schmerz-Cover oder eine Promi-Biographie vertieft ist, schaut er eher auf die Leute herab.
Warum gesteht Lafargue anderen die Freiheit nicht zu, die er für sich selbst in Anspruch nimmt?
So ein zufälliger Blick liefert kaum überzeugende Fakten.
Und Vorurteile gegenüber Medien haben eine lange Tradition: Die Oberschicht beargwöhnte die Romansucht ihrer Dienstboten und Zofen. Was die unteren Schichten lasen, galt sowieso als jugendverderbend, denn die wurden als bessere Analphabeten angesehen. Wie naive Kinder mußten sie von der Oberschicht vor gefährlicher Lektüre wie Tarzan oder Outcaults Yellow Kid geschützt werden ...

Geändert von Servalan (22.01.2017 um 11:40 Uhr)
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