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Alt 20.07.2023, 16:33   #237  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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  • Lutz Seiler: Kruso. Roman (Suhrkamp 2014)
  • Kruso (Deutschland 2018, UFA Fiction, MDR und ARD Degeto für Das Erste), Drehbuch: Thomas Kirchner, Regie: Thomas Stubner, 100 min, FSK: 12
Lutz Seiler erwarb sich zunächst als Lyriker einen Ruf, später folgten Erzählungen, so daß der Literaturbetrieb für sein Romandebüt Kruso schon entsprechend hohe Erwartungen aufbauen konnte. Denn seit 1999 sammelt Seiler fleißig Literaturpreise und war auch Stipendiat in der renommierten Villa Massimo in Rom. Ursprünglich plante er einen anderen Roman, in dem ein Hiddensee-Kapitel lediglich als Rückblende vorkommen sollte; doch das entwickelte ein Eigenleben. Die ersten Entwürfe datieren auf 2011, und den eigentlich vorgesehenen Termin zur Abgabe seines Manuskriptes versäumte Seiler, weil er noch vor Ort recherchierte.
Für sein Romandebüt erhielt Seiler 2014 den Deutschen Buchpreis, inzwischen ist er in 22 Sprachen übersetzt worden. Ziemlich rasch wurde der Stoff mehrfach für das Theater bearbeitet. Der anspruchsvolle Roman des bedeutenden Schriftstellers findet sich als Lektüreempfehlung auch in Lehrplänen wider, allerdings nur für interessierte Schüler der gymnasialen Oberstufe.

Der Roman behandelt den Sommer 1989 auf der abgelegenen Ostseeinsel Hiddensee, die von vielen Bürgern der DDR als Basis für eine Flucht nach Dänemark in den freien Westen angesehen wird. Aufgrund dieser Tatsache war der Strand von den Grenztruppen entsprechend strikt abgesichert, und viele verloren bei der Flucht übers Meer ihr Leben.
Seiler nutzt diesen Hintergrund, um eine utopische Idylle mit phantastischen Elementen zu inszenieren, in denen die Freiheitssuchenden zu Schiffbrüchigen werden, denen der Guru Kruso in der Gaststätte "Zum Klausner" sie durch ein dreitägiges Ritual auffängt. Kruso bewahrt die Schiffbrüchigen vor einer tödlichen Flucht, indem er ihnen eine geistige Freiheit nahebringt.
Auf den knapp 500 Seiten ist die Handlung dürftig, während literarische Anspielungen und weitere Bedeutungsebenen den Sprachrhythmus bestimmen. In gewisser Weise trifft hier ein Roman vom Typ Der Zauberberg auf das Genre des Wenderomans, denn die Flucht vieler DDR-Bürger zunächst über die offene Grenze in Ungarn bestimmt die historische Atmosphäre.

Die Verfilmung orientiert sich natürlich am Handlungsverlauf und bietet ein stimmiges Casting. Insgesamt wirkt der Film jedoch eher wie eine grobe Zusammenfassung des Stoffes, ein Exposé, und bleibt als eigenständiges Werk ziemlich schwach. Die Landschaft hat gewisse Schauwerte, die einzelnen Episoden folgen jedoch fast schon gehetzt aufeinander, und mit dem Wissen um den Untergang der DDR liefert das melancholische Buddy-Movie um Kruso und den liebeskranken Ed eine Tragödie mit Ansage.
Ich vermisse bei der filmischen Version das Gefühl von Dauer, und viele der Nebenfiguren bleiben erschreckend blaß. In gewissen Szenen wie beim Abwasch schwelgt der Film in visueller Opulenz, es fehlt aber das Durchhaltevermögen. Der Film ist nicht schlecht, aber empfehlen mag ihn nicht, dazu scheitert er audiovisuell an zu vielen Hürden.

Geändert von Servalan (20.07.2023 um 17:05 Uhr)
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