Thema: Filmklassiker
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Alt 29.10.2022, 07:53   #113  
Peter L. Opmann
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Diesen Film habe ich etwa 1984/85 im Fernsehen gesehen: „New York City Girl“ (1982), ein Frühwerk von Susan Seidelman. Ich habe ihn gut im Gedächtnis behalten, weil er für mich, ähnlich wie „Vermißt“, schwer einzuordnen war. Ich habe den Verdacht, daß ich ihn aus dem falschen Blickwinkel gesehen habe, nämlich dem des Jungen. Für Seidelman war es aber ein Film über die Selbstbestimmung von Frauen. Die Herangehensweise ist auch irgendwie dokumentarisch und ziemlich unparteiisch.

Ich glaube, am Anfang sehen wir, wie eine junge Frau aus New Jersey (Susan Berman) durch NY streift und überallhin Blätter mit ihrem Konterfei und dem Text „Who’s that Girl?“ klebt. Sie will nämlich in der Musikszene der Stadt bekannt werden. Die Geschichte beginnt aber erst richtig, als sie auf einen Wohnwagen stößt, in dem ein Junge aus dem amerikanischen Westen lebt. Für ihn ist NY nur eine Durchgangsstation; er will nach New Hampshire (ein kleiner Bundesstaat an der Ostküste nahe der kanadischen Grenze). Als er sie kennenlernt, beschließt er, etwas länger zu bleiben. Es wird schnell klar, daß sie schlecht zusammenpassen. Er ist ein ruhiger Typ, der aber weiß, was er will. Er malt ein bißchen. Sie ist hektisch und schrill (ein Punkmädchen), impulsiv und völlig unorganisiert. Trotzdem interessieren sich beide ein wenig füreinander und wollen es einmal miteinander versuchen.

Es kommt, wie es kommen muß: Sie trifft bald darauf einen Rockmusiker (dargestellt von Richard Hell), dessen Karriere etwas ins Stocken geraten ist, für den sie jedoch den Jungen schnell stehenläßt. Das tut ihm weh, er ist aber nicht in der Lage, aus der Haut zu fahren, und nimmt seine Abservierung hin. Der Musiker ist allerdings verheiratet, was für sie bedeutet, daß sie mit seiner Frau in die Haare gerät. Dann muß sie seine Wohnung verlassen, aber nicht wegen der Ehekonflikte, sondern weil er seine Miete nicht bezahlt hat. Sie muß nun wieder irgendwie allein in New York überleben. Da sie dabei aber nicht viel Glück hat, kehrt sie schließlich zu dem Wohnwagen-Boy zurück, der sie auch großzügig wieder bei sich übernachten läßt.

Nach wie vor interessiert sie sich aber mehr für den Rockmusiker. Beide beschließen, nach Los Angeles zu gehen, sobald sie das nötige Geld beisammen haben. Das beschaffen sie sich, indem sie einen Mann ausrauben. Dann kann’s losgehen. Sie muß nur nochmal kurz zurück zum Wohnwagen und ihre Sachen holen. Anschließend stellt sich heraus, daß Richard Hell bereits ohne sie, aber mit dem ganzen Geld nach LA aufgebrochen ist. Unsere Heldin möchte nun ernsthaft zu dem Country-Boy zurückkehren, aber da stellt sich heraus, daß er inzwischen seine Reise nach New Hampshire fortgesetzt hat (nachdem er ziemlich lange vergeblich auf sie gewartet hatte). Er ist weg, nur sein Wohnwagen ist noch da, den er zu Geld gemacht hat. In dem Van findet sie ein Gemälde von ihm mit ihrem Porträt – ein Zeichen, daß er sie wirklich geliebt hat. Aber zu spät - sie wird nun ihr Leben so unstet fortsetzen, wie wir das von ihr kennen.

Das entsprach so ziemlich den Erfahrungen, die ich damals mit Frauen gemacht habe. Verblüfft hat mich an dem Film aber, daß er praktisch ohne Dramaturgie auskommt. Es war möglicherweise der erste Independent-Guerilla-Film, den ich gesehen habe. Alles an der Handlung ist zufallsgeboren. Ich kann mir gut vorstellen, daß direkt auf New Yorker Straßen gedreht wurde. Insgesamt fand ich den Film sehr spannend. Vor allem Susan Bermans Spiel bleibt für mich unvergeßlich. Vielleicht hat sie einfach sich selbst gespielt, aber das sehr überzeugend. Wer Richard Hell ist, wußte ich damals sehr wahrscheinlich noch nicht. Ebenso war der Blick auf New York und seine Musikszene am Ende der Punkära eine völlig neue Erfahrung für mich. Seidelmans bekanntere Filme „Susan… verzweifelt gesucht“ und „Making Mr. Right“ habe ich auch gesehen; sie sind mir aber nicht so im Gedächtnis geblieben. Später habe ich ihr filmisches Werk aus den Augen verloren.
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