Thema: Filmklassiker
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Alt 28.10.2022, 06:54   #110  
Peter L. Opmann
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Also mal sehen, ob uns das gelingt...

Da eben von Jack Lemmon die Rede war, stelle ich jetzt einen Film vor, in dem er einmal eine ausgesprochen ernste Rolle gespielt hat: „Vermißt“ von 1982. Unter dem Aspekt des Klassikers hätte ich vielleicht eher „Z“ vom selben Regisseur, Constantin Costa-Gavras, auswählen sollen. Aber ich habe diesen Film gesehen, als ich für seine Botschaft wie auch seine Machart sehr empfänglich war („Z“ erst einige Jahre später). Er hat auch ein paar unbestreitbare Vorzüge.

Es ist eine dokumentarisch angelegte Geschichte aus der Zeit (1973/74), als die linke Regierung Chiles von dem Diktator Augusto Pinochet gestürzt wurde. John Shea spielt einen jungen Amerikaner mit sozialistischen Idealen, der in Santiago mit Freunden eine Kommune gegründet hat. Er bekommt den Umsturz hautnah mit, als er mit einer Besucherin durch das Land reist. Ein US-Colonel hilft ihnen, trotz des verhängten Kriegsrechts wohlbehalten nach Santiago zurückzukehren. Shea fragt sich allerdings, was der Militär in dieser Situation überhaupt in Chile zu suchen hat. Er macht sich Notizen, auch wenn seine Bekannte ihm rät, das lieber bleiben zu lassen.

Wenige später geht seine Frau, gespielt von Sissy Spacek, eine Freundin besuchen. Als sie zurückkehrt, ist ihre Wohnung verwüstet, und Shea ist weg. Sie stellt bei der örtlichen Polizei Nachforschungen an, aber niemand scheint etwas über seinen Verbleib zu wissen. Schließlich ruft sie seinen Vater in den USA an (Jack Lemmon) und bittet ihn, ihr zu helfen. Er reist sichtlich unwillig und mit der Vorstellung an, er müsse nur bei den Behörden seinen Einfluß als Amerikaner geltend machen, um seinen Sohn aus der mutmaßlichen Haft freizubekommen. Lemmon ist absolut überzeugter Amerikaner und denkt, sein mißratener Sohn habe sich seine Schwierigkeiten selbst eingebrockt. Spacek verteidigt ihren Mann, aber von ihr hat er auch keine sehr hohe Meinung.

Zu Lemmons Überraschungen führen auch seine Ermittlungen zu überhaupt nichts. Sogar der US-Botschafter, zu dem er politische Kontakte hat, beteuert zwar, er werde alles tun, um Shea wiederzufinden, aber wochenlang gibt es null Ergebnisse. Freunde von Shea berichten, wie sie inhaftiert wurden und ihren Tod vor Augen hatten, dann aber doch glücklich freikamen und ausreisen konnten. Was Spacek schon früher befürchtet hat, zieht nun auch Lemmon in Erwägung: daß sein Sohn in den Wirren des Militärputschs umgebracht wurde und die Sache nun vertuscht werden soll. Er glaubt allerdings nicht, daß auch sein eigenes Land da die Finger im Spiel hat.

Unermüdlich suchen Lemmon und Spacek Gefängnisse, Krankenhäuser, Flüchtlingslager und alle Einrichtungen, in denen sich Shea befinden könnte, ab. Dabei bekommen sie tiefe Einblicke in die schlimmen Zustände, die im Land herrschen (wobei unterstellt wird, daß das Leben in Chile unter dem linken Präsidenten Allende wunderbar war). Ein Freund, der angeblich das Land verlassen hatte, taucht als Leiche auf. Eine US-Journalistin bringt Lemmon und Spacek schließlich mit einem Gewährsmann zusammen, der miterlebt hat, daß Shea wegen seiner Aufzeichnungen, die die USA als Pinochet-Helfer enttarnten, hingerichtet worden ist. Er fügt hinzu, die Chilenen hätten das nicht gewagt, wenn nicht die USA ihr Okay dazu gegeben hätten. Wir sehen, wie sich Lemmon im Verlauf der Suche verändert. Insbesondere verbessert sich sein Verhältnis zu seiner Schwiegertochter deutlich.

Der Botschafter bittet Lemmon und Spacek noch einmal zu sich, um ihnen eine gute Nachricht zu verkünden: Er habe nun erfahren, daß Shea in die USA zurückgekehrt sei und bald mit seiner Frau und seinem Vater Kontakt aufnehmen werde. Lemmon bedeutet ihm, er wisse inzwischen, was aus seinem Sohn geworden ist, worauf der Botschafter plötzlich umschwenkt und sagt, es gehe um amerikanische Interessen, um den american way of life; deshalb seien die USA in Chile engagiert. „Wenn es sich nicht zufällig um Ihren Sohn handeln würde, würden Sie doch satt und selbstzufrieden in Ihrem Sessel sitzen“, fügt er hinzu. Dem Film liegt ein realer Fall zugrunde, und am Ende wird noch mitgeteilt, die Leiche des Sohnes sei erst Monate später in die USA überführt worden, so daß eine genaue Autopsie und die Rekonstruktion, wie er umgekommen ist, nicht mehr möglich war. Der Vater habe die US-Regierung und speziell Außenminister Henry Kissinger verklagt, weil sie die Ermordnung eines amerikanischen Staatsbürgers zugelassen hätten – erfolglos.

Wer sich mit dem Vietnamkrieg befaßt hat, hätte schon während des Films darauf kommen können, wie er vermutlich ausgehen wird. Dafür war ich aber zu jung. Der Film wurde übrigens von Universal produziert – also die USA hatten mit der Story offensichtlich auch kein Problem mehr. Aber die Leistung von Lemmon und auch von Spacek ist beachtlich, und rein formal ist das Drehbuch sehr geschickt strukturiert. Man bekommt durch den Ablauf der Ereignisse einen immer besseren Einblick in die Probleme von Chile (wobei das natürlich ein Spielfilm und keine echte Dokumentation ist). Mich packte der Film auch bei meinem moralischen Gewissen, und das gelingt ihm mit Abstrichen auch noch, wenn ich ihn mal wieder sehe.
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