Thema: Filmklassiker
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Alt 12.02.2024, 06:11   #1891  
Peter L. Opmann
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Kehren wir zu einem Film zurück, der beispielhaft für eine Epoche steht: „Fahrraddiebe“ (1948) von Vittorio De Sica. Gemeint ist der italienische Neorealismus, der am Ende des Faschismus aufkam und schon Anfang der 1950er Jahre auslief, weil er nicht mehr dem Publikumsbedürfnis nach Unterhaltung entsprach. Als erster neorealistischer Film wird oft Luchino Viscontis „Besessenheit“ von 1942 bezeichnet, mit dem ich mich demnächst auch mal beschäftigen kann (die erste Verfilmung von „The Postman always rings twice“). „Fahrraddiebe“ ist jedoch wohl das bekannteste Werk dieser Stilrichtung. Bis heute taucht dieser Film immer wieder in Listen der besten Filme aller Zeiten auf, und ich finde, nicht zu Unrecht.

Einen Realismus hat es im italienischen wie auch französischen Kino schon vor dem Zweiten Weltkrieg gegeben. Diese Filme waren oft sozialistisch oder kommunistisch gefärbt, und unter Mussolini konnte diese Entwicklung so nicht weitergehen. Auch die neorealistischen Filme waren im besten Sinne sozialkritisch, zeichneten sich aber vor allem dadurch aus, daß sie prekäre Milieus mit Laiendarstellern vorführten und abgesehen von ihrer Spielhandlung auf die illusionistischen Mittel des Kinos weitgehend verzichteten. Auch die Darsteller in „Fahrraddiebe“ waren keine ausgebildeten Schauspieler; sie waren zwar nach dem Kritikererfolg (unter anderem gab es den Oscar für den besten fremdsprachigen Film) in weiteren Rollen zu sehen, konnten sich aber nicht als Filmstars etablieren. Im Gegensatz zu „Ein Mensch der Masse“ oder „Emil und die Detektive“, die ich oben besprochen habe, verzichtet „Fahrraddiebe“ konsequent auf ein happy end.

Ein junger Familienvater im Rom der Nachkriegszeit findet nach langer Arbeitslosigkeit wieder eine Stelle. Er wird Plakataufhänger. Interessant: Rom verfügt über eine Legion solcher Leute – Plakate waren damals offenbar das beherrschende Massenmedium. Zuerst muß der Mann aber sein verpfändetes Fahrrad auslösen - ohne Rad kann er den Job nicht machen. Seine Frau versetzt dafür ihre Bettwäsche. Schon am ersten Arbeitstag wird ihm das Rad allerdings geklaut. Mit seinem Sohn und ein paar Freunden sieht er sich auf einem Fahrradmarkt um, aber es erscheint aussichtslos, das Rad wiederzufinden. Auch eine Anzeige bei der Polizei ist nutzlos.

Zufällig erkennt er den Dieb auf der Straße wieder, aber der kann untertauchen. Nachdem eine Wahrsagerin ihm versichert hat, er werde das Rad schnell finden, begegnet er dem Dieb erneut und verfolgt ihn bis zu dessen Wohnung. Der streitet aber alles ab, und die Nachbarn – möglicherweise eine Mafiabande – springen ihm bei. Ein auftauchender Polizist verhindert, daß der Mann verprügelt wird, aber Beweise, um den Täter zu verhaften, fehlen. Das Fahrrad bleibt verschwunden. In seiner Verzweiflung beschließt der Mann, auch ein Fahrrad zu stehlen, stellt sich dabei aber so ungeschickt an, daß ihm seinerseits die Verhaftung droht. Der Fahrradbesitzer sieht von einer Anzeige ab, als er den kleinen Sohn des Mannes sieht. Aber seine Stelle hat er damit wohl verloren.

Nahezu der gesamte Film ist in Rom auf der Straße gedreht. Man sieht viel Armut und Not, lange Schlangen von Anstehenden, herumlungernde Arbeitslose und Suppenküchen und übrigens keine bekannten Ecken der „ewigen Stadt“. Obwohl die spannende, teilweise melodramatische Handlung keine Nebensache ist, entsteht mit den authentischen Kulissen zugleich ein Porträt eines Landes mit großen wirtschaftlichen Problemen und ohne Perspektive. Obwohl die neorealistischen Filme im Ausland hohes Ansehen genossen, wollten das in Italien nach einiger Zeit immer weniger Kinozuschauer sehen. Der Neorealismus hat jedoch den Film in Europa und teils auch in Hollywood stark beeinflußt.

Kleindarsteller und Regieassistent bei „Fahrraddiebe“ war übrigens Sergio Leone, der später aber mit seinen eigenen Filmen zu den großen Illusionen zurückkehrte.
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