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Alt 09.01.2017, 18:06   #118  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Zensur ist ein böses Wort.
Zwischen Theorie und Praxis besteht allerdings ein gewisser Unterschied. Und wenn jemand bei Agenturen und Verlagen monatelang vergeblich Klinken geputzt und höflich vorgesprochen hat, bloß um mit einem Formbrief abgespeist zu werden, kann die Geduld flöten gehen. In Rage ist dann rasch mal von der "Zensur des Marktes" die Rede, die den ersehnten Erfolg verhindert.

Machen wir uns nichts vor, irgendeine Auswahl findet immer statt.
Es gibt sicher mehr Manuskripte als veröffentlichte Werke (diese Quote betrifft sowohl einzelne Autorinnen und Autoren als auch den Markt).
Nur ein Teil der erschienen Werke gelangt ins Sortiment des Handels und ist zumindest einige Wochen bis drei Monate präsent. Wenn das Buch nicht erst bestellt werden muß, fällt erstens eine Hürde weg und zweitens können sich Leute spontan zum Kauf entscheiden.
Nicht jedes Buch erreicht das vorgestellte Publikum.
Bestseller und Dauerseller sind vergleichsweise selten.

Im letzten Jahr erschien die deutsche Ausgabe einer Studie von Robert Darnton (den ich sehr schätze): Die Zensoren. Wie staatliche Kontrolle die Literatur beeinflusst hat. Vom vorrevolutionären Frankreich bis zur DDR (Siedler 2016). Der mittlerweile pensionierte Bibliothekar der Elite-Universität Harvard geht seine Forschung eher nüchtern an, wofür er unter Umständen zurückhaltende Rezensionen erntet.
Michael Opitz zieht für den Deutschlandfunk (29.02.2016) eine verhaltene Bilanz:
Zitat:
Nicht ganz deutlich wird, weshalb Darnton gerade den Zensoren eine so bedeutende Rolle im Zensur-Diskurs einräumt, erledigten sie doch ihre Aufgaben in einem bestimmten Machtgefüge. Daher wäre eher nach den Machtmechanismen und den Absichten der Zensur zu fragen gewesen. Die Zensoren waren Teil eines Räderwerks. Ihre Spielräume, kritische Literatur durchsetzen zu wollen, waren gering. Ihre Absicht war es selten.
Florian Felix Weyh (DLF 15.05.2016) referiert ausführlicher und geht auf den fließenden Übergang vom Zensor zum Literaturkritiker ein:
Zitat:
Denn um Zensoren handelt es sich in diesem Fall, nicht um Kritiker, auch wenn sich diese fast so benehmen, als gehörten sie dem heutigen Literaturzirkus mit seiner Dichter- und Richterrollenverteilung an. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts – vor der Revolution, doch schon im gärenden Zeitalter der Enzyklopädien – gab es Literaturkritik in unserem Sinne fast gar nicht. Wohl aber königliche Zensoren. Sie beurteilten Bücher so, wie es heute Rezensenten tun ... oder noch mehr die dem Autor zur Seite gestellten Lektoren.
(...)
Das Verbieten, Verstümmeln, Verändern, Nichterlauben, stillschweigende Ignorieren oder in kleinem Maßstab Tolerieren missliebiger Schriften lässt sich nicht sauber unter einem Zensurbegriff definieren, weil die Grenzen dessen verschwimmen, was eine Gesellschaft für nicht darstellbar hält. Jugendschutz und Gewaltprävention etwa sind durchaus akzeptable Einwände, mussten in der Geschichte aber oft als hohler Vorwand herhalten, ganz ähnlich wie Pornographie und Gotteslästerung.
(...)
Da wären wir wieder beim eingeborenen Zusammenhang zwischen Literaturüberwachung und Literaturkritik: Jene ist ohne diese offenbar kaum zu haben. Ein Zensor ohne literarisches Verständnis wäre seiner Aufgabe gar nicht gewachsen. Ja, er benötigt vermutlich sogar Sensibilität, Empfänglichkeit und Liebe zur Literatur, um deren Abgründe erkennen und denunzieren zu können.
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