Thema: Filmklassiker
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Alt 29.01.2024, 06:31   #1872  
Peter L. Opmann
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Kürzlich habe ich angekündigt, die Abteilung französischer Filme unter meinen Videos näher in den Blick zu nehmen. Ich wollte mit einem Vorläufer der Nouvelle Vague beginnen, Louis Malles „Fahrstuhl zum Schafott“. Das war mal der Beginn einer Malle-Reihe im Bayerischen Rundfunk, und davor lief eine Dokumentation: „Louis Malle zwischen Paris und New York“ (1995) von Angelika Wittlich. Nicht besonders ambitioniert, aber eine informative Übersicht über sein gesamtes Schaffen. Malle gab hier ein Jahr vor seinem Tod ein Interview; seinen letzten Film mit Uma Thurman konnte er nicht mehr fertigstellen. Die Doku eignete sich daher gut als Auftakt der Reihe.

Malle: Ich war 13 Jahre alt, als ich meiner Mutter sagte, ich wolle Filme machen, Regisseur werden. Sie war so erstaunt, so schockiert, daß sie mir eine Ohrfeige gab. Ich glaube, diese Ohrfeige hat meine Entscheidung besiegelt. Ich bin ihr im Grunde dankbar. Vielleicht sagte ich das damals mit 13 nur, um sie zu provozieren. Aber seit dieser Ohrfeige war ich fest entschlossen, den Film zu meinem Beruf zu machen.

Kinobilder aus 35 Jahren. Bilder aus Filmen von Louis Malle. Blicke, mit denen die Liebe erwacht. Die Freuden des französischen Landlebens. Eine das Leben prägende Kindheitserinnerung. Träume eines alternden Gangsters. Zwei Zirkusartistinnen und die Revolution in Mexiko. Ein Selbstmord. Ein Mädchen erobert Paris. Eine unbedingte Liebe. – Paris im November letzten Jahres. Nach vielen Versuchen endlich ein Treffen mit Louis Malle. Erstes Arrondissement, Rue de Louvre No. 15. Im Hinterhaus im dritten Stock ist das Büro der NEF, der Produktionsfirma, die Louis Malle 1958 kaufte. Kleine, unprätentiöse Büroräume, überall Dokumente aus fast 40 Jahren Filmarbeit. 20 Spielfilme, zehn Dolumentarfilme hat Malle bisher gedreht, als Regisseur, meist auch als Autor und Produzent. Seine Filmografie verrät eine in diesem Metier einzigartige Freiheit und Vielseitigkeit.

Geboren 1932, stammt er aus einer der reichsten Industriellenfamilien Frankreichs. Er besucht zunächst eine Jesuitenschule, dann ein Karmeliterinternat. Ein Studium der politischen Wissenschaften wie auch ein Filmstudium führt er nicht zuende. Malles Filme sind immer neue Forschungsreisen, persönlich, riskant, ohne jedes Schielen auf Sicherheit oder Erfolg. Sie verraten einen Horror vor Routine und Wiederholung. Und doch gibt es einige Themen, die wie Leitmotive wiederkehren. Was als erstes auffällt, ist Neugier – auf Geschichten und auf die Wirklichkeit, auf Spielfilme und Dokumentarfilme. Dieses doppelte Interesse war früh da.

Malle: Schon als Kind drehte ich Filme mit der Kamera meines Vaters. Er benutzte sie nie. Ich nahm sie ihm einfach weg. Ich machte Filme, die sehr naiv waren, absurd, inspiriert vom Surrealismus, ganz im Bereich der Fantasie angesiedelt. Glücklicherweise habe ich diese Filme verloren. Sie waren sicher grauenhaft. Doch gleichzeitig interessierte es mich, Menschen auf der Straße zu filmen, Reportagen zu machen.

Jacques-Yves Cousteau, damals schon ein berühter Ozeanograf, Autor und Unterwasserdokumentarist, holt den 20jährigen Malle zur Arbeit an seinem Film „Die schweigende Welt“. Als der Film fertig ist, gibt er Malle einen gleichberechtigten Titel als Autor.

Malle: Ich arbeitete vor allem als Kameramann, aber ich machte auch den Schnitt, den Ton. In diesen zwei Jahren, die ich mit Cousteau verbrachte, war ich eine kleine Filmcrew, ganz allein. Ich habe also die Technik des Filmemachens gelernt, indem ich sie ausübte.

Der Tiefseefilm gewinnt die Goldene Palme in Cannes und einen Oscar. Beides ist Malle nie mehr widerfahren. Malle ist gerade 24 Jahre alt, als er seinen ersten Spielfilm realisiert, „Fahrstuhl zum Schafott“, ein raffinierter Thriller mit Reminiszenzen an Hitchcock, und ein neuer Star: Jeanne Moreau. Ihr langer nächtlicher Gang durch Paris eröffnet eine neue Ära des Kinos.

Malle: Als ich von Cousteau wegging, um diesen Spielfilm zu drehen, waren alle sehr beunruhigt, weil ich keinerlei Erfahrung mit Schauspielern hatte. Ich hatte nur Fische gefilmt. Ich muß zugeben, ich hatte Angst vor den Schauspielern. Ich wußte nicht, was ich ihnen sagen sollte. Aber bei Jeanne Moreau mußte ich nicht Regie führen. Sie wußte viel mehr als ich über die Arbeit, die sie zu tun hatte. Im Gegenteil: Ich lernte viel, indem ich ihr einfach zuschaute, wie sie spielte. Ich glaube, das war das Intelligenteste, was ich machen konnte. Ich nahm sie so, wie sie war, und ich zeigte das, was faszinierend an ihr war. Sie konnte von unglaublicher Schönheit sein, aber im nächsten Augenblick, in der nächsten Einstellung veränderte sie sich vollständig. Sie besaß dabei eine Wahrhaftigkeit. Sie war eine komplexe, interessante Frau. Und plötzlich war sie für alle eine Offenbarung. Eine unglaublich spannende Schauspielerin. – Die bewegte Kamera hat wirklich etwas Dokumentarisches. Im Vergleich zum französischen Kino der Epoche, das sehr statisch war, sehr gut ausgeleuchtet, gab es in diesem Film Elemente der Reportage.

Auf einen Kinderwagen montiert folgt die Kamera Jeanne Moreau. Gedreht wird ohne Licht.

Malle: Wir benutzten damals ein neues, hochempfindliches Schwarzweiß-Material, das Tri-X hieß. Man konnte damit nachts ohne zusätzliches Licht auf der Straße drehen. Das wurde zum ersten Mal so gemacht.

Die Musik zum Film stammt von Miles Davis.

Malle: Er hatte keine große Lust, diese Musik zu machen. Er improvisierte nicht gern. Er hätte gern länger daran gearbeitet, doch hatte er nur einen Abend Zeit. Ich konnte ihn aber überreden, keine Ahnung, warum. Wir begannen am Abend und machten die Nacht durch. Er war schlecht gelaunt, doch er fand diese wundervolle Musik, die den Bildern eine poetische Dimension gibt, ohne je zu aufdringlich zu sein. Sie ist nie pure Verdoppelung, sondern stets Kontrapunkt. Sie schafft eine Atmosphäre, sie gibt dem Film eine Poesie, die er nicht hatte.

„Fahrstuhl zum Schafott“ wird enthusiastisch aufgenommen, bei der Kritik, beim Publikum. Louis Malle dreht sofort seinen nächsten Film: „Die Liebenden“. In der Hauptrolle: Jeanne Moreau.

Malle: „Die Liebenden“ sind meine Liebeserklärung an Jeanne Moreau. Ich wollte einen Film nur für sie machen. Vom ersten bis zum letzten Bild ist es ihr Film.

Jeanne Moreau spielt eine mit einem reichen, ungeliebten Mann verheiratete Frau in der französischen Provinz. Die Heuchelei in den Beziehungen des Großbürgertums, dem Malle selbst entstammt, wird er auch später sehr präzise bloßstellen. Als sie in einer Nacht die Liebe entdeckt, verläßt sie Mann, Kind und alle bürgerlichen Sicherheiten.

Malle: Das Wichtigste an diesem Film war für mich, eine Variation des Themas des coup de foudre, der Liebe auf den ersten Blick, zu drehen. Man trifft sich, sieht sich an – es ist passiert. Ich machte das bei den „Liebenden“ auf sehr romantische, lyrische, naive Weise.

In langen, ruhigen Einstellungen läßt Malle die Liebe entstehen.

Malle: Was die Leute damals sehr frappierte, außer der Kühnheit der sexuellen Szenen, die heute allerdings ziemlich schüchtern wirken, damals aber schockierten, war die Tatsache, daß ich so lange und ausführlich den Spaziergang durch die Nacht, durch den Park zeigte. Meine Inspiration waren dabei Gemälde des deutschen Malers Caspar David Friedrich. Als der Film auf dem Festival in Venedig lief, hatte noch niemand ihn gesehen; er war gerade eine Woche vorher fertig geworden. Es gab sofort einen unglaublichen Skandal. Die italienische Zensur war damals noch sehr streng. Der Bischof – natürlich hatte er den Film nicht gesehen – attackierte ihn am Sonntag im Dom von San Marco. Also, ich war sehr zufrieden.

In einigen amerikanischen Staaten wurde der Film verboten, in Deutschland um mehrere Szenen gekürzt, zensiert.

Malle: Normalerweise hätte man in dieser Szene einen Schwenk auf das Fenster gemacht. Schnitt. Der nächste Morgen. Ich aber blieb mit der Kamera auf Jeanne Moreau und Jean-Marc Bory, die sich lieben. Denn mir war wichtig zu zeigen, daß dieser Frau etwas widerfährt in dieser Nacht, in ihrem Körper, das sie vorher nie erlebt hatte. Das war ziemlich simpel und naiv. Aber ich war 25 Jahre alt. Ich hatte diese Idee im Kopf, daß sie die sexuelle Lust entdeckt, die sie vorher weder mit ihrem Ehemann noch mit ihrem Geliebten erlebt hatte. Heute würde ich das so nicht mehr erzählen. Ich denke, die Dinge sind doch etwas komplizierter. Aber diese einfache und starke Idee verpflichtete mich, mit der Kamera bei dem Orgasmus von Jeanne Moreau zu bleiben. Und plötzlich hatte dieser Film einen unglaublichen Skandal verursacht. Er hatte enormen Erfolg auf der ganzen Welt. Ich war schlagartig mit 25 ein berühmter Regisseur. Ich wußte überhaupt nicht, was ich damit anfangen sollte. Es störte mich sehr.

Paris Ende der 50er Jahre. Neben Louis Malle erobert eine neue Generation von Regisseuren das Kino. Sie drehen Filme, die die Studios verlassen, auf die Straße gehen. Sie erzählen sehr persönliche Geschichten. Das Autorenkino, die Nouvelle Vague, die „neue Welle“ entsteht. Zentrum des neuen Films ist die Zeitschrift „Cahiers du Cinema“. Fast alle Regisseure dieser Zeit schreiben hier. Eric Rohmer hat seinen Erstling gedreht, „Im Zeichen des Löwen“. Francois Truffaut schreibt begeisterte Texte über die Filme von Louis Malle. Er debütiert gerade mit seinem ersten Spielfilm, „Sie küßten und sie schlugen ihn“. Claude Chabrol, hier am Krankenbett seines Hauptdarstellers Jean-Claude Brialy, hat mit dem Geld einer Erbschaft seinen Erstling, „Der schöne Serge“, gemacht. Louis Malle ist der bis dahin weitaus erfolgreichste dieser jungen Regisseursgeneration.

Malle: Mir sagt dieser Begriff „Nouvelle Vague“ nicht viel. Denn im Grunde waren wir alle sehr verschieden. Einige kamen von der Literatur, ich kam eher vom Visuellen, von der Fotografie. Aber einig waren wir uns in der Überzeugung, daß der Film die totale Kunst ist, die große Kunst des 20. Jahrhunderts, und daß es außer dem Film nichts Interessantes gibt.

Zwei Jahre später. Ein vollkommen anderer Film: „Zazie in der Metro“ nach dem genialen experimentellen Roman von Raymond Queneau.

Malle: „Zazie“ war ein formal kühner Film. Ich hatte dabei zunächst ein ganz genaues Ziel. „Zazie“ sollte für mich eine Stilübung sein. Ich sagte mir: Ich nehme dieses Buch, das ich sehr liebe, und es wird mir die Gelegenheit geben, so, wie Queneau die Literaut erforscht, den Film zu erforschen. Queneau spielt mit der Sprache in einer Serie von Parodien. Er macht sich lustig über die Literatur. Er erstellt ein Inventar aller möglichen literarischen Formen. Gleichzeitig ist er sehr komisch. Ich sagte mir also: Ich will ein filmisches Äquivalent machen. Ich bin am Beginn meiner Karriere. Ich werde eine Art Bestandsaufnahme, eine Grammatik des Films herstellen. – Wir drehten den Film praktisch nie mit 24 Bildern pro Sekunde, der Normalgeschwindigkeit. Wir drehten sehr verlangsamt, zwischen 26 und 78 Bildern pro Sekunde oder sehr schnell mit acht Bildern pro Sekunde. Meistens aber drehten wir etwas schneller oder etwas langsamer. Manchmal, wenn wir mit acht Bilder pro Sekunde drehten, bat ich die Schauspieler, sich langsamer zu bewegen. Das mißlang oft, wir mußten alles wiederholen. Aber wenn es funktionierte, wenn die Kamera schneller drehte, die Schauspieler sich aber langsamer bewegten, bekam man etwas, das so aussah wie die Realität. Zugleich aber gab es irgendeinen Gegenstand, der schnell herunterfiel. Andere flogen vorbei. Es war sehr seltsam. In „Zazie“ gibt es viele komische Sachen, die der Zuschauer oft gar nicht wahrnimmt. Aber ich machte das für mich. – Wir haben mitten in Paris gedreht, ohne Erlaubnis der Polizei. Wir riskierten viel, ich darf gar nicht daran denken. Wir schickten dieses Kind zusammen mit der Frau in Violett – die Frau konnte nicht einmal autofahren – auf den Place de l’Etoile, im vollen Verkehr. Es war ein Film der Jugend und Verrücktheit. – Tief im Inneren bleibt für mich von „Zazie“ aber noch etwas anderes. So wie „Die Liebenden“ eine Liebeserklärung an Jeanne Moreau ist, so ist „Zazie“ eine Liebeserklärung an Paris, an das Paris von Raymond Queneau, den ich sehr bewunderte. Ein Paris, das damals bereits zu verschwinden begann. Es gab also auch eine starke kritische, satirische Absicht bei „Zazie“. Ich wollte zeigen: Man ist dabei, dieses Paris zu zerstören. Man wird es mit Plastik überhäufen, es auf abscheuliche Weise modernisieren. Und so beschreibt mein Film auch ein Stück Nostalgie.

Zudem nimmt „Zazie“ ein Thema auf, das Malle immer wieder beschäftigen wird: das Chaos der Erwachsenen, betrachtet aus der hellsichtigen Perspektive eines Kindes.

Malle: Dieser durchdringende Blick eines Kindes, ohne Schwäche, ohne Heuchelei, auf uns Erwachsene, die wir Lügner sind, Betrüger, Schwächlinge, Verräter, das war wunderbar.

In „Herzflimmern“ erlebt ein 15jähriger, der viel von Malle hat, die Verwirrungen des sexuellen Erwachens, einen Inzest. „Lacombe, Lucien“: Ein 17jähriger wird 1944 zum Kollaborateur, bis er sich in eine Jüdin verliebt. Er wird ein Opfer politischer Korruption. „Pretty Baby“: Eine zwölfjährige Prostituierte in New Orleans zu Anfang des Jahrhunderts. „Auf Wiedersehen, Kinder“: Louis Malles eigene Geschichte aus seiner Kindheit. Im unerbittlichen Blick der Kinder entlarvt er die gestörte Welt der Erwachsenen.

(Rest folgt morgen)

Geändert von Peter L. Opmann (29.01.2024 um 06:51 Uhr)
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