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Alt 22.10.2014, 14:58   #8  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Wie bei den meisten Dingen, gibt es auch hier einen Haken: Wer etwas erzählt, muß einen Draht zu seinem Publikum haben. Auf einer ganz allgemeinen Ebene müssen sich beide Seiten verstehen, damit der Geschichtenerzähler seine Hörerschaft in den Bann ziehen kann.

Explizit kommen diese Bedingungen eigentlich nie zur Sprache.
Damit sich beide Seiten auf das Erzählte einlassen können, muß das Erzählen an einem verhältnismäßig geschützten Ort stattfinden: Solange sich jemand vor dem Überfall einer feindlichen Horde oder dem Angriff eines Raubtieres wappnen muß, solange jemand um sein nacktes Überleben kämpft, wäre das eine Ablenkung, die das eigene Leben kosten könnte.
Deshalb ist das Erzählen von Geschichten etwas, das Menschen verbindet. Wer sich über, durch und mit Geschichten verständigen kann, erkennt damit etwas an, das Sprecher und Hörer verbindet. Geschichten schaffen Gemeinschaften. Am deutlichsten wird diese Qualität in Insiderwitzen.
Eine Rahmenerzählung bietet die Gelegenheit, diesen Umstand sichtbar werden zu lassen. Im Decamerone flüchten zehn Adlige auf einen Landsitz und erzählen sich dort die Novellen; im Heptamerone sorgt ein Unwetter für verschüttete und verschlammte Straßen und überflutete Wege, so daß eine Gruppe von Adligen festgehalten wird; und in den Geschichten aus 1001 Nacht erzählt Scheherazade buchstäblich um ihr Leben.

Geschichten erzählen, ist nichts Selbstverständliches, und leicht ist es schon gar nicht. Nur ein Bruchteil der Leute, der ständig sagt, sie oder er könne eigentlich einen Roman schreiben, tut es letztlich auch. Geschichten erzählen will gelernt sein. Dabei kann viel schiefgehen.
Meist geschieht das autodidaktisch durch Versuch und Irrtum. Die meisten Ergüsse auf Papier bleiben peinlich wie pennälerhafte Liebesbriefe an den Klassenschwarm oder eine andere Dorfschönheit. Spätestens nach einigen Jahren fallen den meisten Autoren ihre offensichtlichen Fehler und Mängel ins Auge, und dann sind sie froh, daß dieser und jener stümperhafte Versuch in der Schublade geblieben ist. Dabei müssen Fehler gemacht und selbst erkannt werden, um sie künftig meiden zu können. Nur durch ein ständiges Training wird das Gespür für die Fähigkeiten, Möglichkeiten und Lücken der Sprache geschult, nur wer hart übt, verinnerlicht die Prinzipien, die eingehalten werden müssen, um eine Geschichte erzählen zu können.

Es muß erlaubt sein, eine Geschichte erzählen zu dürfen.
Schließlich wird ja schon die damit verbundene Muße häufig scheel angesehen. Wer sich ein wenig in der Kulturgeschichte auskennt, wird fast unvermeidlich über religiöse Asketen stolpern, die ihren Mitmenschen dieses Vergnügen vergällen wollen und die jeweils populären Medien mit allerhand Vorurteilen diffamieren.
So haben die Puritaner über die Puppenspiele (motions) und Theaterspiele zuerst gelästert. Nach der Glorious Revolution gelang es ihnen, all das zu verbieten, was sie als gottlos betrachteten. Wenige Jahrhunderte später wurde über die Romansucht der Dienstboten gelästert, über die Penny Dreadfuls der Hausierer und die Kolportageromane. Sobald ein neues Medium die Bühne betrat, wurde es fast zwanghaft als jugendgefährdend und sittenverderbend dargestellt, vom Kintopp (Kino) über Radio, Fernsehen und Videospiele bis zum Internet. Die Schmutz-und-Schund-Kampagnen, bei denen Comics gegen vermeintlich bessere Literatur getauscht und dann vielleicht öffentlich verbrannt wurden, fallen also ins übliche Reiz-Reaktions-Schema.
Das Publikum muß lernen, was es bei Geschichten erwarten kann. Und da scheint jedes Medium das Rad neu erfinden zu wollen, indem ein schon etabliertes Medium einfach übertragen wird: Beim Roman als Lesedrama, beim Kino als gefilmtes Theater, beim Comic als gezeichneter Film ...

Je besser das Publikum mit den verschiedenen Erzählweisen vertraut ist, desto mehr Möglichkeiten bieten sich, Geschichten zu erzählen und allzu bekannte Muster, die womöglich langweilen könnten, dürfen unterlaufen oder ironisch gebrochen werden.
Insofern leben wir in einem Goldenen Zeitalter des Geschichtenerzählens.
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