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Alt 23.03.2016, 16:51   #44  
Servalan
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Standard J.B. Heinrich Savigny und Alexandre Corréard: Schiffbruch der Fregatte Medusa (1818 / 1821)

Der vollständige Titel lautet: Schiffbruch der Fregatte Medusa auf ihrer Fahrt nach dem Senegal im Jahr 1816, oder vollständiger Bericht von den merkwürdigen Ereignissen auf dem Floß, in der Wüste Sahara, zu Saint-Louis und in dem Lager zu Dakar / Naufrage de la frégate La Méduse, faisant partie de l'expédition du Sénégal, en 1816 ; relation contenant les événements qui ont eu lieu sur le radeau, dans le désert de Sahara, à Saint-Louis et au camp de Daccard ; suivie d'un examen sous les rapports agricoles de la partie occidentale de la côte d'Afrique, depuis le Cap-Blanc jusqu'à l'embouchure de la Gambie
Deutsche Ausgaben Greno 1987 (139 Seiten), zuletzt Matthes & Seitz 2005
http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt...0Méduse.langFR (Volltext in Französisch)
https://fr.wikipedia.org/wiki/Le_Radeau_de_La_Méduse

Neben den wichtigen und bedeutenden Werken gehören zur Klassik im weitesten Sinne auch die Arbeiten der Pioniere, die zur Entwicklung beitragen, obwohl sie nur selten vom Publikum gewürdigt werden oder nur Spezialisten bekannt sind. Ein gelegentlicher literaturgeschichtlicher Blick hilft einem, eigene Vorurteile oder Wissenslücken zu erkennen, manchmal verändern sie Perspektive. Meist sind Stoffe nämlich vieler älter als gedacht. Wenn diese Werke zurecht kanonisiert worden sind, werden sie regelmäßig wiederentdeckt, nachgedruckt und für jüngere Generationen neu aufgelegt.

Diesmal habe ich mir einen frühen dokumentarischen Roman herausgepickt, der ein ein ganzes Land in Aufruhr versetzt, die Regierung erschüttert und die Schiffahrt selbst revolutioniert hat. Den Untergang der Fregatte Medusa kennen heute sogar diejenigen, die keine Ahnungen haben, was damals eigentlich passiert ist:

England und Frankreich pokerten in den Napoleonischen Kriegen auch um Kolonien, und 1816 war Frankreich im Vorteil, weshalb es die westafrikanische Kolonie Senegal zurückgewinnen konnte. Eine der vier Fregatten, die Siedler in die Kolonie bringen sollte, war die "Méduse". Der Kapitän hatte zwar die erwünschte Gesinnung, als Emigrant aber kaum Erfahrung auf hoher See. Die "Méduse" läuft auf Grund, aber es gibt nur sechs Rettungsboote. Von den gut 400 Passagieren und Crewmitgliedern retten sich knapp 149 vor dem nassen Tod auf ein rasch zusammengezimmertes Floß. Nur 15 Personen überlebten die zehn Tage auf dem Meer. (Weitere Details siehe Wikipedia)

Von der Resonanz läßt sich das Desaster mit dem Untergang der "Titanic" hundert Jahre später vergleichen.

Über das Monumentalgemälde Das Floß der Medusa / Le Radeau de la Méduse (1819) von Théodore Géricault (1791–1824), das heute im Louvre hängt, schreibt sich der Schiffbruch bis heute in die populären Medien und die hohen Künste ein. Zitate und Anspielungen finden sich in Hergés Tim und Struppi wie in René Goscinnys und Albert Uderzos Astérix. Der Stoff wird immer mal wieder zum Anlaß für Romane, Filme und Musik.

Zwei der Überlebenden, der Arzt Heinrich Savigny und der Ingenieur-Kartograph Corréard, faßten ihre Empörung in Worte und landeten damit einen veritablen Bestseller. Gut 150 Jahre vor Truman Capotes Kaltblütig / In Cold Bood (1965) und vor David Simons erzählerischem Journalismus über das Morddezernat (Homincide 1991) und die Drogenszene in Baltimore (The Corner 1997) entsteht so ein einflußreiches Dokument über menschliche Abgründe und Hoffnungen.

Die Unsicherheiten der damaligen Gesellschaft spiegeln sich in der Sprache, die mehr verrät, als es zunächst scheint. Der schwülstig-barocke Titel folgt noch der ehrwürdigen Tradition der Berichte stolzer Seefahrer, die unter Lebensgefahr Weltumsegler begleitet haben (wie Georg Forster).
Aber Heinrich Savigny und Corréard sind moderne positivistische Wissenschaftler, die nüchtern Fakten aufzählen und Listen nicht scheuen. Zu der Zeit muß das Publikum ähnliche Werke wie Defoes Robinson Crusoe und Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg im Hinterkopf gehabt haben, die letztlich immer etwas Gutes bewahrt haben.

Wie später bei Truman Capote zerstören auch hier die Autoren eine Idylle, wodurch der Bericht etwas Dystopisches bekommt. Der schonungslose Bericht zeigt, wozu gewöhnliche Menschen in Extremsituationen fähig sind. (In ihrer Not haben sich die Überlebenden kannibalisch ernährt.)

Geändert von Servalan (01.08.2016 um 17:15 Uhr)
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