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Alt 09.03.2017, 15:30   #125  
Servalan
Moderatorin Internationale Comics
 
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Standard Warum soll das Wissen in die Geschichte? (Teil 1)

Eine Geschichte überzeugt das Publikum und halt auch einem kritischeren zweiten Blick stand.
Natürlich gibt es Tricks und Kniffe, mit denen sich eigene Schwächen kaschieren lassen. Action kann überwältigen, und beim Mitfiebern wird der eine oder andere Lapsus wegen des hohen Tempos überlesen. Solange es nur darum geht, sich in den Helden hineinzuversetzen und spannungsreich zu unterhalten (dieses Niveau verlangt schon hohe Kunstfertigkeit), bleibt eine Achillesferse.
Wie bei allzu bekannten Witzen ("Der hat einen Bart!") besteht die Gefahr, daß schon der geringste Spoiler genügt, um Erstlesern das Vergnügen zu verderben.

Je länger das Manuskript wird, desto mehr geraten Charaktere, Story und Plot in den Hintergrund. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Plot, Story und Charaktere bilden gewissermaßen das Rückgrat des Erzählens, aber sie zu meistern, reicht besonders auf der Langstrecke nicht aus.
In der Mathematik werden notwendige und hinreichende Bedingungen unterschieden. Die Oberfläche der erzählten Geschichte bildet in dieser Hinsicht nur die notwendige Bedingung. Was erzählt wird. muß unterfüttert werden, um das Publikum auch beim zweiten, dritten, vierten, x-ten Lesen fesseln zu können: die hinreichende Bedingung.

Die Sprache selbst bietet genügend Mittel, um hinter den Kulissen das eingebrachte Wissen so zu komponieren, daß eine neue Faszination entstehen kann. In den ersten Jahren des Schreibens passiert das meist unbewußt: Beim Korrigieren und Wiederlesen fällt euch eine Variante ein, die in euren Augen einfach besser aussieht, obwohl ihr den Grund nicht erkennen könnt.
Solche Erlebnisse sprechen für euer Sprachgefühl.
Nach einer gewissen Zeit habt ihr genügend Abstand zu eurem Werk entwickelt, so daß ihr es quasi mit fremden Augen betrachten könnt. Und jetzt entdeckt ihr vielleicht, warum euch der korrigierte Begriff besser gefallen hat: Er paßt besser zum Wortfeld, das ihr in eurem Werk am häufigsten benützt. Oder es spielt auf einen bekannten Mythos an. Oder der Begriff ist von einer allgemeinen Bezeichnung zu etwas Spezifischem geworden, das die bestimmte historische Epoche oder einen bestimmten Beruf auf den Punkt bringt ...
Möglichkeiten gibt es viele. Und Schreiben ist - wie schon erwähnt - ein Ausdauersport.

Auf der anderen Seite lauert die Gefahr, ein Werk auf der Suche nach dem perfekten Ausdruck zu Tode zu korrigieren. Irgendwie müßt ihr für euch den richtigen Mittelweg finden.

Dieses Wissen im Hintergrund erfüllt noch eine Funktion.
Bei Charakteren gibt es eine unerzählte Vorgeschichte, die Backstory der jeweiligen Figur. Der sprachliche Ausdruck funktioniert ähnlich. Auf diese Weise bleiben gewisse Eigenheiten erhalten, auch wenn sie für das Publikum nicht mehr offensichtlich sind.
Das Wissen bietet der Geschichte ein weiteres Gerüst: Der menschliche Körper besteht je auch nicht nur aus dem Skelett, Nerven und Blutkreislauf durchziehen unser Fleisch ein weiteres Mal.
Gut untergebrachtes Wissen funktioniert wie die Sicherheitskopie einer Datei. Es komponiert das Werk auf einer weiteren Ebene und schützt es bei Kürzungen oder überhasteten Übersetzungen, wo schon mal Patzer vorkommen.

Im nächsten Teil erläutere ich dieses Prinzip an Stieg Larssons Millenium-Trilogie.

Geändert von Servalan (19.03.2017 um 18:14 Uhr)
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